Für Überraschungen gut
Wie gespalten die US-amerikanische Gesellschaft ist, hat sich bei der am Dienstag begonnenen Anhörung um die Nachfolge der jüngst verstorbenen Ruth Bader Ginsburg am Obersten Gericht gezeigt. Der Vorsitzende des Justizausschusses, Senator Lindsey Graham, erinnerte daran, dass die liberale Ikone 1993 mit einer überwältigenden Mehrheit von 96 zu drei Stimmen bestätigt worden sei. Da sich abzeichnet, dass die Nachfolgekandidatin Amy Coney Barrett keine Stimmen aus dem demokratischen Lager erhalten wird, bemerkte Graham: „Ich weiß nicht, was zwischen damals und heute passiert ist.“Es ist eine heuchlerische Aussage, denn man muss nicht 27 Jahre zurückgehen, um Antworten zu finden. Da reicht ein Blick ins Jahr 2016, als es ebenjener Graham war, der die Nachbesetzung einer vakanten Richterstelle durch Obama erfolgreich torpedierte, weil ja schließlich eine Wahl bevorstehe. Dass seine Partei nun im Schweinsgalopp noch vor der Wahl am 3. November die Kandidatin Trumps absegnen will, stößt verständlicherweise auf heftigen Widerstand.
Amy Coney Barrett polarisiert in dieser erhitzten
Debatte um die Richterstuhlbesetzung, weil sie wie ein Gegenentwurf zu Ginsburg wirkt. Als siebenfache Mutter wurde sie schnell zum erzkonservativen Feindbild hochstilisiert. Der auch in der Anhörung geäußerte Vorbehalt, ihr bloßes Katholischsein könne ihr bei der Amtsführung im Wege stehen, ist aber absurd. Hier sollten sachliche Argumente, nicht persönliche Lebensumstände zählen.
Eine viel begründetere Befürchtung ist, dass sich Barrett vom Druck des Präsidenten beeinflussen lassen könnte. Denn Trump hat sie mit der Ansage nominiert, dass er vom Supreme Court einen gesellschaftspolitischen „Rollback“erwartet. Unter den Demokraten herrscht etwa die Sorge, dass sie dabei helfen könnte, das geltende liberale Abtreibungsrecht zu kippen. Die dem Lebensschutz zugeneigte Barrett hat das liberale Grundsatzurteil des Obersten Gerichts zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1973 kritisiert. Doch an der grundsätzlichen Regelung, dass Schwangerschaftsabbrüche legal sind, will Barrett nicht rütteln; kritisch sieht sie vor allem Spätabtreibungen. Es ist eine differenzierte Sicht auf ein hochsensibles Thema.
Dass sie bei ihrer Anhörung vielen Fragen auswich, dürfte den Demokraten in die Hände spielen. Sie können ihre Wähler mit der Drohkulisse mobilisieren, dass der Supreme Court das Gesundheitspaket „Obamacare“kippen und damit die medizinische Versorgung von Millionen Amerikanern verschlechtern könnte. Barrett wird sich an ihrer Aussage, nicht feindlich gegenüber „Obamacare“eingestellt zu sein, messen lassen müssen – und an der Versicherung, dem Präsidenten keine Zugeständnisse gemacht zu haben. Sollte die 48-Jährige gewählt werden, was sehr wahrscheinlich ist, dürfte der Supreme Court zweifelsfrei nach rechts rücken. Doch dass es zur befürchteten konservativen Restaurationsphase kommt, ist nicht ausgemacht. Oberste Richter sind für Überraschungen gut; auch der von Trump nominierte Neil Gorsuch hat bereits mit einem LGBT-freundlichen Urteil seine Unabhängigkeit bewiesen.
Dass es zum konservativen „Rollback“am Supreme Court kommt, steht nicht fest.
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