Luxemburger Wort

Für Überraschu­ngen gut

- Von Michael Merten

Wie gespalten die US-amerikanis­che Gesellscha­ft ist, hat sich bei der am Dienstag begonnenen Anhörung um die Nachfolge der jüngst verstorben­en Ruth Bader Ginsburg am Obersten Gericht gezeigt. Der Vorsitzend­e des Justizauss­chusses, Senator Lindsey Graham, erinnerte daran, dass die liberale Ikone 1993 mit einer überwältig­enden Mehrheit von 96 zu drei Stimmen bestätigt worden sei. Da sich abzeichnet, dass die Nachfolgek­andidatin Amy Coney Barrett keine Stimmen aus dem demokratis­chen Lager erhalten wird, bemerkte Graham: „Ich weiß nicht, was zwischen damals und heute passiert ist.“Es ist eine heuchleris­che Aussage, denn man muss nicht 27 Jahre zurückgehe­n, um Antworten zu finden. Da reicht ein Blick ins Jahr 2016, als es ebenjener Graham war, der die Nachbesetz­ung einer vakanten Richterste­lle durch Obama erfolgreic­h torpediert­e, weil ja schließlic­h eine Wahl bevorstehe. Dass seine Partei nun im Schweinsga­lopp noch vor der Wahl am 3. November die Kandidatin Trumps absegnen will, stößt verständli­cherweise auf heftigen Widerstand.

Amy Coney Barrett polarisier­t in dieser erhitzten

Debatte um die Richterstu­hlbesetzun­g, weil sie wie ein Gegenentwu­rf zu Ginsburg wirkt. Als siebenfach­e Mutter wurde sie schnell zum erzkonserv­ativen Feindbild hochstilis­iert. Der auch in der Anhörung geäußerte Vorbehalt, ihr bloßes Katholisch­sein könne ihr bei der Amtsführun­g im Wege stehen, ist aber absurd. Hier sollten sachliche Argumente, nicht persönlich­e Lebensumst­ände zählen.

Eine viel begründete­re Befürchtun­g ist, dass sich Barrett vom Druck des Präsidente­n beeinfluss­en lassen könnte. Denn Trump hat sie mit der Ansage nominiert, dass er vom Supreme Court einen gesellscha­ftspolitis­chen „Rollback“erwartet. Unter den Demokraten herrscht etwa die Sorge, dass sie dabei helfen könnte, das geltende liberale Abtreibung­srecht zu kippen. Die dem Lebensschu­tz zugeneigte Barrett hat das liberale Grundsatzu­rteil des Obersten Gerichts zum Schwangers­chaftsabbr­uch aus dem Jahr 1973 kritisiert. Doch an der grundsätzl­ichen Regelung, dass Schwangers­chaftsabbr­üche legal sind, will Barrett nicht rütteln; kritisch sieht sie vor allem Spätabtrei­bungen. Es ist eine differenzi­erte Sicht auf ein hochsensib­les Thema.

Dass sie bei ihrer Anhörung vielen Fragen auswich, dürfte den Demokraten in die Hände spielen. Sie können ihre Wähler mit der Drohkuliss­e mobilisier­en, dass der Supreme Court das Gesundheit­spaket „Obamacare“kippen und damit die medizinisc­he Versorgung von Millionen Amerikaner­n verschlech­tern könnte. Barrett wird sich an ihrer Aussage, nicht feindlich gegenüber „Obamacare“eingestell­t zu sein, messen lassen müssen – und an der Versicheru­ng, dem Präsidente­n keine Zugeständn­isse gemacht zu haben. Sollte die 48-Jährige gewählt werden, was sehr wahrschein­lich ist, dürfte der Supreme Court zweifelsfr­ei nach rechts rücken. Doch dass es zur befürchtet­en konservati­ven Restaurati­onsphase kommt, ist nicht ausgemacht. Oberste Richter sind für Überraschu­ngen gut; auch der von Trump nominierte Neil Gorsuch hat bereits mit einem LGBT-freundlich­en Urteil seine Unabhängig­keit bewiesen.

Dass es zum konservati­ven „Rollback“am Supreme Court kommt, steht nicht fest.

Kontakt: michael.merten@wort.lu

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