Null Toleranz
„Immigration Nation” gibt erschütternde Einblicke in die amerikanische Abschiebepolitik
Es ist das wohl dunkelste Kapitel einer sowieso düsteren Präsidentschafts-Ära: die Einwanderungspolitik von Donald Trump. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit sorgt der 45. US-Präsident für Schlagzeilen mit seinem Mauerbauprojekt an der amerikanisch-mexikanischen
und Schicksale im Abseits stehen: Es ist die Welt der United States Immigration and Customs Enforcement, kurz ICE, die Clusiau und Schwarz während drei Jahren ausgeleuchtet haben.
Unter Präsident Trump wurde die nationale Polizei- und Zollbehörde, die einst im Zuge der 9/11Attentate ins Leben gerufen wurde, aufgestockt und hochgerüstet. Sie zählt mittlerweile 129 Einheiten, deren Ziel es ist, Jagd auf illegale Einwanderer zu machen.
Denn wie eine Jagd sieht es aus, wenn die Beamten ausrücken, in ihren protzigen Boliden mit den getönten Fenstern durch Häuserschluchten rasen, in einschüchternd wirkender Einsatzmontur an Wohnungen klingeln, mit der Gewissheit auf ihrer Seite, dass deroder diejenige, der/die sich hinter der Tür auffällt, in der (Abschiebe)falle sitzt. Und es mutet dann fast wie ein Videospiel an, für das es Bonuspunkte gibt, wenn außer der gesuchten Person weitere Einwanderer ohne Aufenthaltsgenehmigung ins Netz gehen. „Collaterals“werden diese lapidar bezeichnet.
Menschen als Kollateralschaden
Einer müsse den Job halt machen, rechtfertigen die ICE-Vollstrecker ihre Arbeit. Ja, das mag stimmen. Aber es geht auch um die Art, wie die Arbeit verrichtet wird. Wenn sich ein leitender Beamter über einen Illegalen lustig macht, der niedergeschlagen in der Abschiebezelle hockt, und eine Handyaufnahme von dieser traurigen Szene an die Kollegen schickt, oder wenn ein Kollege auf Streife via Funk aufgefordert wird, zwei „Collaterals“mitzubringen, so wie man zwei Burger zum Mittagsmahl mitbringt, erhält der Zuschauer einen Einblick in die eigenartige Interpretation der ICE-Arbeit, die ihn perplex zurücklässt.
„Immigration Nation“widmet sich aber auch denjenigen, die gesetzlich gesehen Täter sind, weil sie in einem Land leben und arbeiten, wo sie eigentlich nicht sein dürfen – und jetzt als Opfer einer hässlichen Politik enden, deren primäres Ziel es ist, dem US-Präsidenten schöne Statistiken zu produzieren.
Wenn man ins Visier von ICE und Justiz gerät, spielt es keine Rolle, dass man sich über Jahre eine Existenz in den Vereinigten Staaten aufgebaut hat – es wird einem gerade noch gestattet, dem Arbeitgeber mitzuteilen, dass man nicht mehr zu Arbeit erscheint, oder sich von der in Tränen aufgelösten Tochter zu verabschieden.
Es spielt auch keine Rolle, welche Entbehrungen man auf sich genommen hat, um ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu gelangen – so wie Josué aus Honduras, der unterwegs erst Frau und Tochter zurücklassen muss, weil ihnen das Geld ausgeht, und dem beim Grenzübertritt nach Amerika sein Sohn entrissen wird. Als Zuschauer mag man nicht wirklich glauben, wenn sich ein ICE-Beamter diese Null-Toleranz-Politik mit dem Argument zurecht legt, die Kinder vor ihren gesetzwidrig handelnden Eltern zu schützen – so wie man die Kinder auch schützen müsste, wenn ihre angetrunkenen Eltern sie im Auto mitnehmen würden.
„Immigration Nation“läuft als sechsteilige Doku-Serie bei Netflix (Altersfreigabe ab 16 Jahre).