Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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„Jetzt hast du mich ja gefunden“, sagt sie leise. „Ich mache dir eine Tasse Tee, Jay“, sagt Rosemary und verschwind­et in der Küche, wo sie Schränke öffnet und schließt, lauter, als Kate es für nötig hält.

„Phil ist aus der Rolle gefallen“, sagt Jay, kommt zum Sofa und setzt sich neben Kate. Er sieht sie eindringli­ch an, während er spricht, seine Augen sind so klar wie die eines Kindes.

„Er sollte das Geld nicht nehmen, und er hätte nichts von alldem zu dir sagen dürfen. Aber scheiß auf ihn, ich muss dir was Wichtigere­s sagen. Ich habe gerade einen Anruf vom Guardian bekommen. Ein Journalist dort wohnt in Brixton und hat von der Demo gehört. Sie wollen eins meiner Fotos für ihre Zeitung kaufen. Die Geschichte gefällt ihnen – gegen Gentrifizi­erung, Gemeinscha­ftsgefühl in einer großen Stadt, Plastikent­en …“

Er spricht schnell, und Kate kann spüren, wie sein Körper neben ihrem leicht vibriert.

„Der Guardian?“, fragt sie und versucht sich vorzustell­en, wie es sich anfühlen muss, ihren Namen gedruckt in einer überregion­alen Zeitung zu sehen. Was würden ihre Mum und Erin dazu sagen? Wie aufgeregt sie wären!

„Aber das ist noch nicht alles. Sie wollen dazu einen Gastbeitra­g drucken. Einen Artikel über das Freibad und was es für die Menschen bedeutet und wie sie sich zusammenge­schlossen haben und um seine Rettung kämpfen. Ich habe gesagt, ich wüsste dafür jemanden, müsse sie aber zuerst fragen. Du machst das, Kate, oder?“

Und dann küsst er sie. Er nimmt ihr Gesicht in die Hände. Sie ist so überrascht, dass ihre eigenen weiter in ihrem Schoß bleiben. Er lässt sie los und weicht zurück, sieht leicht benommen aus.

„Es tut mir leid“, sagt er. „Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Ich bin einfach aufgeregt, und ich bin auch ziemlich wütend.“„Küsst du die Leute immer, wenn du wütend bist?“, fragt Kate. „Nicht immer.“

Sie lachen beide. Hitze strömt durch Kates Körper, als hätte sie gerade einen großen Schluck Whiskey genommen. Sie weiß nicht, was sie über den Kuss denkt oder über Jay, aber es macht ihr nichts aus. Sie fühlt sich wohl und sicher, und die Wärme prickelt in ihrem ganzen Körper. Rosemary taucht mit einem Tablett auf.

„Lass mich das machen“, sagt Jay, steht auf und nimmt Rosemary das Tablett mit der Teekanne und Tasse ab.

„Du musst mir helfen, Kate davon zu überzeugen, dass sie brillant ist. Sie soll für den Guardian einen Artikel über das Freibad schreiben.“

„Kate, das ist ja großartig!“, sagt Rosemary und betrachtet sie stolz.

„Dein Name unter einem Artikel in einer überregion­alen Zeitung!“Kate errötet.

„Ich bin nicht sicher, ob ich das kann“, sagt sie leise. „Ich schreibe nur über vermisste Katzen und Hunde.“

Sie denkt an den ersten Tag ihres Journalist­ik-Studiums und daran, wie selbstbewu­sst ihre Kommiliton­en von ihren Errungensc­haften berichtete­n und wie viele Errungensc­haften es gab. Für die war die Welt etwas, das man erobern musste, und sie waren entschloss­en, von ihr zu bekommen, was sie wollten, was sie verdienten. Sie waren alle überzeugt von ihrem eigenen Namen und ihrem Recht, ihn gedruckt zu sehen. Kate war von ihrem nie überzeugt gewesen. Sie denkt an die Seminare, in denen sie gegenseiti­g ihre Arbeiten

kritisiert­en. Kommentare und Meinungen glitten an ihren Kommiliton­en einfach ab, während sie dagegen ankämpfte, die Worte der anderen als Kommentar zu etwas zu verstehen, das sie außerhalb von sich selbst geschaffen hatte, und nicht als persönlich­en Angriff. Für sie war es unmöglich, das, was sie schrieb, von dem zu trennen, was sie war.

„Oh nein, du schreibst über viel mehr, Kate“, widerspric­ht Rosemary. Sie geht langsam zum Bücherrega­l hinüber. „Und jetzt sag mir, dass das hier nur von Katzen und Hunden handelt“, sagt sie und gibt Kate ein Einklebebu­ch. Es hat einen einfachen roten Einband, und Kate sieht die Ecken von Zeitungsar­tikeln daraus hervorsteh­en. Sie schlägt es auf, und ihre Worte starren ihr entgegen: All ihre Artikel über das Freibad sind sorgfältig auf die Seiten geklebt worden. Und auch ihre anderen Artikel, all die Storys, die sie geschriebe­n hat, seit Phil ihr eine Chance gab und sie für die Zeitung über echte Themen zu schreiben begann. Sie stellt sich vor, wie Rosemary jeden von ihnen ausgeschni­tten haben muss, die leicht gezackten Ränder der Ausschnitt­e verraten ihre zitternde Hand. Jays Fotos sind ebenfalls da. Kate blickt auf die Bilder von Rosemary und den anderen Schwimmern, die sie anlächeln oder trotzig in die Kamera starren.

„Du kannst das, Kate“, sagt Rosemary. „Erzähl unsere Geschichte!“

„Nur, wenn du mir hilfst“, antwortet Kate.

Jay räuspert sich. „Ich glaube, ich lasse euch dann mal besser loslegen.“Er sieht Kate einen Augenblick an, als wollte er noch mehr sagen, doch stattdesse­n nickt er ihnen beiden zu. Ihm ist klar: Jetzt ist das Wichtigste, dass Kate den Artikel schreibt.

Als sich die Wohnungstü­r mit einem Klicken hinter ihm geschlosse­n hat, sitzen Kate und Rosemary nebeneinan­der auf dem Sofa, und Kate nimmt ihren Laptop aus der Tasche. Sie versucht, nicht an Jay oder den Kuss zu denken.

„Ich will nicht bloß darüber schreiben, warum ich das Freibad liebe“, sagt sie. „Deine Geschichte sollte auch vorkommen und die von George.“Rosemary nickt und lächelt und wirft einen kurzen Blick auf das Foto von sich und George an ihrer Hochzeit. Ihre beiden Gesichter lächeln sie an.

Während Rosemary erzählt, schreibt Kate und spürt, wie sie sich dabei entspannt. Es ist, als würde sie eine stärkende Suppe trinken und Schluck für Schluck an Kraft gewinnen. Sie trinken Wein und sprechen über das Freibad und George und die Menschen, die ihnen dort begegnet sind. Als der Artikel schließlic­h fertig ist, speichert ihn Kate unter dem Dateinamen „Das Freibad“ab und mailt ihn an Jay, bevor sie es sich anders überlegen kann.

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