Ein Wort wie ein glühender Lavaklumpen
In den österreichischen Kliniken herrscht trotz Entwarnung von Verantwortlichen unter Ärzten Angst vor der Triage
Wenn man mit Dr. Lisa-Maria Kellermayr spricht, dann ist da vor allem ein Wort, dass so oft vorkommt, wie kein anderes: Mangel. Lisa-Maria Kellermayr ist Allgemeinmedizinerin und unterwegs. Dieser Tage ist das ein Leben zwischen Auto, Patient, Auto, Patient, Auto, Patient. So geht das den lieben langen Tag lang. Und irgendwann spät abends: Bett. Hunderte Kilometer legt sie täglich zurück. Und wenn der Tag mehr als 24 Stunden hätte, so könnten es auch Tausende sein. Es ist der Mangel an Infrastruktur, an Material von dem sie spricht.
Lisa-Maria Kellermayr ist in Oberösterreich tätig. Einer jener Regionen, in der das Spitalssystem in den vergangenen Wochen zeitweise knapp am Kollaps vorbeischrammte. Und wenn sie über diese gerade noch im letzten Moment abgewendete Katastrophe spricht, dann fällt neben dem Wort Mangel noch eines: Triage. Es ist ein Wort wie ein glühender Lavaklumpen: Anfassen, in den Mund nehmen oder gar aussprechen will es niemand. Es ist ein Wort wie ein Eingeständnis des Scheiterns.
Die zweite Welle der CoronaPandemie, sie hat Österreich getroffen wie ein Tsunami. Ein Land, das über ein durchaus gut funktionierendes Gesundheitssystem verfügt, über eine an sich gut funktionierende Verwaltung. Und dennoch: Die Sieben-Tage-Inzidenz lag im Österreich-Schnitt am Dienstag bei 454 – bei allerdings großen regionalen Unterschieden. In Salzburg lag sie etwa bei 649, in Wien bei 313. Derzeit dürften sich die Zahlen stabilisieren. Allerdings auf „extrem hohem Niveau“, wie es Gesundheitsminister Rudolf Anschober nannte.
Ein weicher Lockdown war an Österreich praktisch spurlos vorübergegangen. Derzeit gilt ein harter Lockdown inklusive faktischer Schließung der Schulen, geschlossenem Handel und geltenden Ausgangsbeschränkungen. Auf Spitalsebene ist in Oberösterreich durchwegs von einer „angespannten“, aber „geordneten“Situation die Rede. Bettenkapazitäten hätten aufgestockt werden müssen. Aber weggeschickt worden sei niemand.
Kapazitäten wohl überschritten
Fazit: „Wir sehen uns nicht in einer dramatischen Lage“, wie es seitens der Barmherzigen Schwestern in Ried heißt. Primar Johannes Huber, ärztlicher Leiter des Spitals, sagt: „Die Zahlen haben uns überrascht. Gerade bei uns, am Land war man immer der Meinung, dass wir weniger betroffen sind, aber das hat sich als falsch herausgestellt.“
In den Kliniken in Oberösterreich ist die Lage angespannt, aber geordnet.
Lisa-Maria Kellermayr sagt hingegen, dass die Kapazitäten überschritten worden sind. Sie habe Patienten zu betreuen, die in einem schlechteren Zustand als bei Einlieferung in das Krankenhaus wieder nach Hause geschickt wurden. „Triage“, so sagt sie, „das ist ein geordneter Ablauf, das kontrollierte Abwägen auf Basis medizinischer Kenntnisse, die Zuteilung begrenzter Ressourcen an jene, die sie am dringendsten brauchen und gleichzeitig am meisten davon profitieren.“Triage ist es aber auch, wenn sie aus der Flut an hilfesuchenden Patienten auswählen muss: „Wenn ich einen dringenden Patienten in eineinhalb Stunden Entfernung habe und vier weitere im Umkreis von 15 Minuten, dann ist klar, wo das Verhältnis zwischen zeitlicher Ressource und daraus entstehendem Nutzen am besten ist“, sagt sie.
Und das sei dann eben keine Entscheidung, die alleine vom Gesundheitszustand des Patienten abhängt. Das Schlimmste, so sagt Lisa-Maria Kellermayr, dürfte zunächst aber einmal vorbei sein. Die Hausbetreuung wurde nicht zuletzt durch Initiativen engagierter Ärzte ausgeweitet, und auch die Bettenkapazitäten in den Spitälern wurden ausgebaut.
Österreichs Strategie war und ist es, zur Entlastung der Krankenhäuser soweit es geht auf die Hausbetreuung von Covid-Patienten zu setzen. Also auf Leute, wie Lisa-Marie Kellermayr. Dazu aber braucht es Strukturen, es braucht Personal, es braucht Koordination. Und an genau daran habe es gemangelt, so die Ärztin. Daher auch der Ansturm auf die Spitäler.
Alles sei zu schnell gegangen, viel schneller als die meisten Verantwortungsträger es wahrhaben wollten, sagt sie. Schneller und zugleich härter: Und so liegt zwischen Verharmlosung und Panik heute nur mehr ein schmaler Grat.
Von einem „massiv zweigeteilten Wissensstand“spricht Johannes Huber: „Wir haben Leute, die sich mit dem Thema Covid intensiv beschäftigen und fast so etwas wie eine Expertise aufgebaut haben; wir haben aber eben auch die Leugner – und dazwischen liegt ganz wenig.“In Proportionen beschreibt das der Mediziner als „fast 50/50“.
Die Zahlen haben uns überrascht. Johannes Huber, Spitalsleiter
Da kommt es in Lisa-Maria Kellermayrs Arbeitsalltag dann zu derartigen Szenen: Ein Patient, ein älterer Herr in schlechtem Zustand. Der 20-jährige Sohn, der ihn angesteckt hat, steht mit steinerner Mine daneben. „Ich weiß, dass da von mir Worte des Trostes erwartet werden. Aber ihm mögliche Schuldgefühle auszureden, das habe ich einfach nicht mehr in mir“, sagt sie. Zu lange waren die Tage in letzter Zeit, zu viele Kilometer waren es.