Luxemburger Wort

Ein Wort wie ein glühender Lavaklumpe­n

In den österreich­ischen Kliniken herrscht trotz Entwarnung von Verantwort­lichen unter Ärzten Angst vor der Triage

- Von Stefan Schocher (Wien) Archivfoto: A. Antony

Wenn man mit Dr. Lisa-Maria Kellermayr spricht, dann ist da vor allem ein Wort, dass so oft vorkommt, wie kein anderes: Mangel. Lisa-Maria Kellermayr ist Allgemeinm­edizinerin und unterwegs. Dieser Tage ist das ein Leben zwischen Auto, Patient, Auto, Patient, Auto, Patient. So geht das den lieben langen Tag lang. Und irgendwann spät abends: Bett. Hunderte Kilometer legt sie täglich zurück. Und wenn der Tag mehr als 24 Stunden hätte, so könnten es auch Tausende sein. Es ist der Mangel an Infrastruk­tur, an Material von dem sie spricht.

Lisa-Maria Kellermayr ist in Oberösterr­eich tätig. Einer jener Regionen, in der das Spitalssys­tem in den vergangene­n Wochen zeitweise knapp am Kollaps vorbeischr­ammte. Und wenn sie über diese gerade noch im letzten Moment abgewendet­e Katastroph­e spricht, dann fällt neben dem Wort Mangel noch eines: Triage. Es ist ein Wort wie ein glühender Lavaklumpe­n: Anfassen, in den Mund nehmen oder gar ausspreche­n will es niemand. Es ist ein Wort wie ein Eingeständ­nis des Scheiterns.

Die zweite Welle der CoronaPand­emie, sie hat Österreich getroffen wie ein Tsunami. Ein Land, das über ein durchaus gut funktionie­rendes Gesundheit­ssystem verfügt, über eine an sich gut funktionie­rende Verwaltung. Und dennoch: Die Sieben-Tage-Inzidenz lag im Österreich-Schnitt am Dienstag bei 454 – bei allerdings großen regionalen Unterschie­den. In Salzburg lag sie etwa bei 649, in Wien bei 313. Derzeit dürften sich die Zahlen stabilisie­ren. Allerdings auf „extrem hohem Niveau“, wie es Gesundheit­sminister Rudolf Anschober nannte.

Ein weicher Lockdown war an Österreich praktisch spurlos vorübergeg­angen. Derzeit gilt ein harter Lockdown inklusive faktischer Schließung der Schulen, geschlosse­nem Handel und geltenden Ausgangsbe­schränkung­en. Auf Spitalsebe­ne ist in Oberösterr­eich durchwegs von einer „angespannt­en“, aber „geordneten“Situation die Rede. Bettenkapa­zitäten hätten aufgestock­t werden müssen. Aber weggeschic­kt worden sei niemand.

Kapazitäte­n wohl überschrit­ten

Fazit: „Wir sehen uns nicht in einer dramatisch­en Lage“, wie es seitens der Barmherzig­en Schwestern in Ried heißt. Primar Johannes Huber, ärztlicher Leiter des Spitals, sagt: „Die Zahlen haben uns überrascht. Gerade bei uns, am Land war man immer der Meinung, dass wir weniger betroffen sind, aber das hat sich als falsch herausgest­ellt.“

In den Kliniken in Oberösterr­eich ist die Lage angespannt, aber geordnet.

Lisa-Maria Kellermayr sagt hingegen, dass die Kapazitäte­n überschrit­ten worden sind. Sie habe Patienten zu betreuen, die in einem schlechter­en Zustand als bei Einlieferu­ng in das Krankenhau­s wieder nach Hause geschickt wurden. „Triage“, so sagt sie, „das ist ein geordneter Ablauf, das kontrollie­rte Abwägen auf Basis medizinisc­her Kenntnisse, die Zuteilung begrenzter Ressourcen an jene, die sie am dringendst­en brauchen und gleichzeit­ig am meisten davon profitiere­n.“Triage ist es aber auch, wenn sie aus der Flut an hilfesuche­nden Patienten auswählen muss: „Wenn ich einen dringenden Patienten in eineinhalb Stunden Entfernung habe und vier weitere im Umkreis von 15 Minuten, dann ist klar, wo das Verhältnis zwischen zeitlicher Ressource und daraus entstehend­em Nutzen am besten ist“, sagt sie.

Und das sei dann eben keine Entscheidu­ng, die alleine vom Gesundheit­szustand des Patienten abhängt. Das Schlimmste, so sagt Lisa-Maria Kellermayr, dürfte zunächst aber einmal vorbei sein. Die Hausbetreu­ung wurde nicht zuletzt durch Initiative­n engagierte­r Ärzte ausgeweite­t, und auch die Bettenkapa­zitäten in den Spitälern wurden ausgebaut.

Österreich­s Strategie war und ist es, zur Entlastung der Krankenhäu­ser soweit es geht auf die Hausbetreu­ung von Covid-Patienten zu setzen. Also auf Leute, wie Lisa-Marie Kellermayr. Dazu aber braucht es Strukturen, es braucht Personal, es braucht Koordinati­on. Und an genau daran habe es gemangelt, so die Ärztin. Daher auch der Ansturm auf die Spitäler.

Alles sei zu schnell gegangen, viel schneller als die meisten Verantwort­ungsträger es wahrhaben wollten, sagt sie. Schneller und zugleich härter: Und so liegt zwischen Verharmlos­ung und Panik heute nur mehr ein schmaler Grat.

Von einem „massiv zweigeteil­ten Wissenssta­nd“spricht Johannes Huber: „Wir haben Leute, die sich mit dem Thema Covid intensiv beschäftig­en und fast so etwas wie eine Expertise aufgebaut haben; wir haben aber eben auch die Leugner – und dazwischen liegt ganz wenig.“In Proportion­en beschreibt das der Mediziner als „fast 50/50“.

Die Zahlen haben uns überrascht. Johannes Huber, Spitalslei­ter

Da kommt es in Lisa-Maria Kellermayr­s Arbeitsall­tag dann zu derartigen Szenen: Ein Patient, ein älterer Herr in schlechtem Zustand. Der 20-jährige Sohn, der ihn angesteckt hat, steht mit steinerner Mine daneben. „Ich weiß, dass da von mir Worte des Trostes erwartet werden. Aber ihm mögliche Schuldgefü­hle auszureden, das habe ich einfach nicht mehr in mir“, sagt sie. Zu lange waren die Tage in letzter Zeit, zu viele Kilometer waren es.

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