Die Überzeugung fehlt
Noch vier Wochen bis Heiligabend. Ob die dann folgenden Feiertage in großer Familienrunde stattfinden, steht noch nicht fest. Fest steht jetzt schon, sollten die Weihnachtstage nach dem „alle Jahre wieder“-Prinzip stattfinden, da und dort Stühle leer bleiben. Viele Familien haben Corona-Opfer zu beklagen. Sie werden fehlen. Ihren Angehörigen.
Und der Allgemeinheit?
288 Tote hat das Virus in Luxemburg seit Ausbruch der Pandemie gefordert. Und doch wird diese Zahl mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Fatalität hingenommen, fast schon nach der Devise „sterben tun die anderen“. Die Corona-Opfer sind nicht mehr als eine Statistik unter vielen – die sich dahinter verbergenden Schicksale werden nicht wahrgenommen. Dabei sollte die Größenordnung wach rütteln: Bei 288 Todesopfern wäre mehr als ein Dorf zwischen Ösling und Minette ausgelöscht. Menschenleer.
Nun ist nach neun Monaten der Reflex nachvollziehbar, dass viele Menschen die Krise samt ihren Konsequenzen als Belastung empfinden – 56 Prozent der Luxemburger laut jüngster Politmonitor-Erhebung – und sie sich nach Normalität sehnen. Das kann aber nicht bedeuten, den Alltag, wie sie ihn vor Mitte März kannten und schätzten, herbei zu forcieren und die Augen vor dem Virus zu verschließen. Ein Virus, das tödliche Folgen haben oder zumindest einen Klinikaufenthalt mit ungewissem Ausgang bescheren kann.
Ein Beispiel: Wer, wie am vergangenen Samstag zu beobachten, in der bestens besuchten Groussgaass, wo Abstand zur Illusion wird, ohne Maske flaniert, liefert dem Virus die Vorlage zum Beutezug. Und handelt nicht vernünftig, sondern fahrlässig. Obendrein liefert er/sie den Beleg, dass die Empfehlungspolitik, in die Blau-Rot-Grün in diesem Herbst so hohe Hoffnungen gesetzt hat, nur bedingt alltagstauglich ist. So dass Luxemburg nun in den LockdownModus zurückkehrt, teilweise, und bis zum 15. Dezember. In den kommenden drei Wochen soll Weihnachten gerettet werden.
Abgesehen davon, dass das Verzichts- und Verbotspaket da und dort Kohärenz vermissen lässt – was Opposition, Staatsrat und Menschenrechtskommission monieren – ist dessen große Schwäche die überschaubare Überzeugung, mit der seine Initiatoren es rechtfertigen. Insbesondere der Art und Weise, wie der Premierminister – zum wiederholten Mal – Handeln hinauszögerte und auf Zeit spielte, haftet etwas Halbherziges an. Es fällt ihm schwer, Politik gegen seine liberalen Ideale zu machen. Doch dadurch nimmt er in Kauf, dass der so wichtige pädagogische Ansatz, seine Mitbürger glaubhaft zu überzeugen, auf der Strecke bleibt, weil der Spagat zwischen Einschränkung und Empfehlung nicht gelingt. Gerade bei den Kontaktbeschränkungen wird dieses Dilemma deutlich. Man fühlt sich an die Konstellation mit dem Kind erinnert, dem mal vorgeschrieben wird, es dürfe zehn, vier oder zwei Bonbons essen und dem gleichzeitig jedes Mal empfohlen wird, doch bitte weniger Süßes zu verzehren. Was wird das Kind tun? Es wird sein Kontingent an Kamellen ausschöpfen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern.
Gleichzeitig vorschreiben und empfehlen, das funktioniert nicht.
Kontakt: marc.schlammes@wort.lu