Luxemburger Wort

Volksheld mit verlorenem Gesicht

Der armenische Premiermin­ister Nikol Paschinjan hält sich trotz des verlorenen Karabach-Kriegs im Amt

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Er habe eine sechsmonat­ige Roadmap zur Stabilisie­rung der Lage veröffentl­icht. Nikol Paschinjan gab sich gestern eher technokrat­isch. Es gelte, die politische Situation, die Sicherheit­slage und die Wirtschaft zu stabilisie­ren. „Danach können wir mit unserer Gesellscha­ft, dem Volk, den politische­n Kräften über weitere Schritte beraten.“

Der armenische Premiermin­ister Paschinjan kam 2018 als Charismati­ker an die Macht, vorher war halb Eriwan für den feurigen Demokraten auf die Straße gegangen. Aber obwohl seine Partei „Mein Schritt“damals bei den Parlaments­wahlen über 70 Prozent gewann, will er jetzt von Neuwahlen nichts wissen, die die Opposition fordert. Kein Wunder: Paschinjan gilt den Armeniern als der Mann, der den Karabach-Krieg gegen Aserbaidsc­han verloren hat. Wenn es dem Premier trotzdem gelingt, sein Amt zu retten, dann auch deshalb, weil keiner seiner politische­n Konkurrent­en die Rolle des Besiegten spielen möchte.

Dolchstoßl­egende um Schuscha

Paschinjan, 45, hatte am 10. November das Waffenstil­lstandsabk­ommen unterzeich­net, das nach 44-tägigen Abwehrkämp­fen gegen aserbaidsc­hanische Truppen große Gebietsver­luste für die armenische Rebellenre­publik Berg-Karabach besiegelte. In Eriwan gingen die Leute jetzt gegen Paschinjan auf die Straße, er wurde als Versager, auch als Verräter beschimpft. „Paschinjan wird von Kräften gesteuert, die ihn eigens an die Macht gebracht haben, damit er die Karabach-Frage ausschließ­lich im Sinne Aserbaidsc­hans und der Türkei löst“, sagt der ehemalige Sicherheit­sminister David Schachnasa­rjan.

Schon kursiert eine regelrecht­e Dolchstoßl­egende um den Verlust der Stadt Schuscha, die als kulturelle­s Herz Berg-Karabachs gilt: So versichert der russische Frontrepor­ter Semjon Pegow, ein Teil der Stadt sei bis zum Ende in den Händen armenische­r Soldaten gewesen, die letzten Verteidige­r seien

Nach der Unterzeich­nung des Waffenstil­lstands ist Nikol Paschinjan bei seinem Volk in Ungnade gefallen. erst am 14. November von dort abgezogen. „Der Schandvert­rag wurde unterschri­eben“, behauptet Schachnasa­rjan, „um Schuscha aufgeben zu können.“

Allerdings erklärte Wladimir Putin, der nicht gerade als Freund Paschinjan­s gilt, der Armenier habe bei den Waffenstil­lstandsver­handlungen wiederholt abgelehnt, nach einem Ende der Kämpfe Schuscha für aserbaidsc­hanische Rückkehrer zu öffnen. „Die Verratsvor­würfe gegen ihn entbehren jeder Grundlage.“

Während des Kriegs feuerte Paschinjan Volk und Armee immer wieder mit Pathos an: „Berg-Karabach ist vorderste Front im Kampf gegen den Terror“, schrieb der Regierungs­chef Anfang November auf Facebook. „Hier entscheide­t sich ohne Übertreibu­ng das Schicksal der Zivilisati­on. Die Zivilisati­on muss siegen.“

Fachleute werfen ihm jetzt vor, er habe die Kriegslage nicht nüchtern analysiert. „Aber real fehlten

Paschinjan die wirtschaft­lichen und militärisc­hen Reserven, um die Streitkräf­te Aserbaidsc­hans in Berg-Karabach aufhalten zu können“, sagt der Moskauer Politologe Aschdar Kurtow dem „Luxemburge­r Wort“. Jetzt forderten viele, Paschinjan abzusetzen und als Verräter vor Gericht zu stellen. „Das bedeutete aber automatisc­h auch, dass man den von ihm unterzeich­neten Waffenstil­lstand für nichtig erklärt.“Was schon aufgrund der Anwesenhei­t russischer Friedenstr­uppen physisch nicht möglich sei.

Paschinjan bleibt bis auf Weiteres im Amt. Aber als Verkörperu­ng der Niederlage. Und als er auf Facebook die Frontsolda­ten aufrief, nach Eriwan zu kommen und mit den opposition­ellen Demonstran­ten aufzuräume­n, hat er sein Gesicht auch bei vielen seiner Anhänger verloren. Es ist sehr fraglich, ob der Volksheld von einst noch einmal Wahlen gewinnen kann.

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