Volksheld mit verlorenem Gesicht
Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hält sich trotz des verlorenen Karabach-Kriegs im Amt
Er habe eine sechsmonatige Roadmap zur Stabilisierung der Lage veröffentlicht. Nikol Paschinjan gab sich gestern eher technokratisch. Es gelte, die politische Situation, die Sicherheitslage und die Wirtschaft zu stabilisieren. „Danach können wir mit unserer Gesellschaft, dem Volk, den politischen Kräften über weitere Schritte beraten.“
Der armenische Premierminister Paschinjan kam 2018 als Charismatiker an die Macht, vorher war halb Eriwan für den feurigen Demokraten auf die Straße gegangen. Aber obwohl seine Partei „Mein Schritt“damals bei den Parlamentswahlen über 70 Prozent gewann, will er jetzt von Neuwahlen nichts wissen, die die Opposition fordert. Kein Wunder: Paschinjan gilt den Armeniern als der Mann, der den Karabach-Krieg gegen Aserbaidschan verloren hat. Wenn es dem Premier trotzdem gelingt, sein Amt zu retten, dann auch deshalb, weil keiner seiner politischen Konkurrenten die Rolle des Besiegten spielen möchte.
Dolchstoßlegende um Schuscha
Paschinjan, 45, hatte am 10. November das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das nach 44-tägigen Abwehrkämpfen gegen aserbaidschanische Truppen große Gebietsverluste für die armenische Rebellenrepublik Berg-Karabach besiegelte. In Eriwan gingen die Leute jetzt gegen Paschinjan auf die Straße, er wurde als Versager, auch als Verräter beschimpft. „Paschinjan wird von Kräften gesteuert, die ihn eigens an die Macht gebracht haben, damit er die Karabach-Frage ausschließlich im Sinne Aserbaidschans und der Türkei löst“, sagt der ehemalige Sicherheitsminister David Schachnasarjan.
Schon kursiert eine regelrechte Dolchstoßlegende um den Verlust der Stadt Schuscha, die als kulturelles Herz Berg-Karabachs gilt: So versichert der russische Frontreporter Semjon Pegow, ein Teil der Stadt sei bis zum Ende in den Händen armenischer Soldaten gewesen, die letzten Verteidiger seien
Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands ist Nikol Paschinjan bei seinem Volk in Ungnade gefallen. erst am 14. November von dort abgezogen. „Der Schandvertrag wurde unterschrieben“, behauptet Schachnasarjan, „um Schuscha aufgeben zu können.“
Allerdings erklärte Wladimir Putin, der nicht gerade als Freund Paschinjans gilt, der Armenier habe bei den Waffenstillstandsverhandlungen wiederholt abgelehnt, nach einem Ende der Kämpfe Schuscha für aserbaidschanische Rückkehrer zu öffnen. „Die Verratsvorwürfe gegen ihn entbehren jeder Grundlage.“
Während des Kriegs feuerte Paschinjan Volk und Armee immer wieder mit Pathos an: „Berg-Karabach ist vorderste Front im Kampf gegen den Terror“, schrieb der Regierungschef Anfang November auf Facebook. „Hier entscheidet sich ohne Übertreibung das Schicksal der Zivilisation. Die Zivilisation muss siegen.“
Fachleute werfen ihm jetzt vor, er habe die Kriegslage nicht nüchtern analysiert. „Aber real fehlten
Paschinjan die wirtschaftlichen und militärischen Reserven, um die Streitkräfte Aserbaidschans in Berg-Karabach aufhalten zu können“, sagt der Moskauer Politologe Aschdar Kurtow dem „Luxemburger Wort“. Jetzt forderten viele, Paschinjan abzusetzen und als Verräter vor Gericht zu stellen. „Das bedeutete aber automatisch auch, dass man den von ihm unterzeichneten Waffenstillstand für nichtig erklärt.“Was schon aufgrund der Anwesenheit russischer Friedenstruppen physisch nicht möglich sei.
Paschinjan bleibt bis auf Weiteres im Amt. Aber als Verkörperung der Niederlage. Und als er auf Facebook die Frontsoldaten aufrief, nach Eriwan zu kommen und mit den oppositionellen Demonstranten aufzuräumen, hat er sein Gesicht auch bei vielen seiner Anhänger verloren. Es ist sehr fraglich, ob der Volksheld von einst noch einmal Wahlen gewinnen kann.