Reisen oder nicht
Thanksgiving stellt die Amerikaner vor eine schwierige Wahl
Anthony Fauci hat für sich eine pragmatische Antwort auf die Frage gefunden, die am Vorabend des wichtigsten Festtags in den USA eine ganze Nation befasst. „Wir hatten ein wunderbares Thanksgiving im vergangenen Jahr und wir freuen uns auf ein tolles Fest im nächsten Jahr“, sagt der 79-jährige Experte für Infektionskrankheiten. Angesichts von täglich mehr als 170 000 Neuansteckungen und einem völlig überlasteten Gesundheitssystem werde er heute allein mit seiner Frau zu Tisch sitzen. Die erwachsenen Töchter schalten die Faucis per Videokonferenz zu.
Nicht alle Amerikaner sind so vernünftig wie der Top-Infektiologe, der selbstverständlich den Empfehlungen der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC folgt. Die rät nicht nur dringend vor Reisen ab, sondern auch von größeren Familien- und Freundestreffen rund um den gebratenen Truthahn.
Dass Donald Trumps neuer Corona-Berater, der Radiologe Scott Atlas, die Warnungen in den Wind schlägt, zeigt, wie wenig sich die Amerikaner auf die einfachsten Dinge während einer tödlichen Pandemie verständigen können, die zurzeit täglich mehr als 2 200 Menschenleben fordert. Die Einsamkeit an einem Feiertag wie Thanksgiving sei eine „der unausgesprochenen Tragödien für die älteren Menschen, denen nun gesagt wird: Seht Eure Familien nicht“, beklagt Atlas die Richtlinien des eigenen Ministeriums. „Für viele ist es das letzte Thanksgiving.“
Die gemischten Botschaften der Verantwortlichen tragen zur großen Konfusion in dem Land bei, das die Kontrolle über den Virus längst verloren hat. Nirgendwo sonst in der westlichen Welt hat Covid-19 so viele Infektionen verursacht und Opfer gefordert wie hier.
Der Kardiologe Jonathan Reiner von der George Washington University zieht einen Vergleich zu dem Treffen Tausender Motorradfahrer, die im Spätsommer trotz Warnungen der Behörden ohne Masken und sozialen Abstand in Sturgis im Bundesstaat South Dakota zusammenkamen. Die Teilnehmer verbreiteten den Virus überall im Mittleren Westen der USA, der auch deshalb heute das Epizentrum der Pandemie ist.
„Mutter aller Super-Spreader-Events“Reiner fürchtet, der nationale Festtag, könnte Sturgis in den Schatten stellen und zur „Mutter aller Super-Spreader-Events“werden. Der Grund liegt auf der Hand. An Thanksgiving kommen Amerikaner traditionell aus allen Teilen der USA mit ihren Familien zusammen. Und bringen in diesem Jahr möglicherweise als besondere Beilage zum gebratenem Flattermann eine Portion Covid-19 aus dem Flugzeug oder von der Autobahnraststätte mit.
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Am vergangenen Wochenende ignorierten rund drei
Millionen Reisende die Ratschläge der Gesundheitsbehörde und sorgten für den lebhaftesten Betrieb auf den Flughäfen seit Beginn der Pandemie im März. Der kommende Sonntag nach Thanksgiving dürfte nach Schätzung von Experten der verkehrsreichste Reisetag im ganzen Jahr werden.
„Es gibt so viel Ansteckungsgefahren in den USA, dass die Chancen jemanden mit Covid-19 zu begegnen, sehr, sehr hoch sind“, sagt Syra Madad, die als Epidemiologin für die Krankenhäuser in New York City zuständig ist.
Volle Straßen und Staus erwartet die Autofahrer-Lobby AAA, die rund um Thanksgiving mit knapp 48 Millionen Reisenden auf den Highways rechnet. Das wären nur knapp vier Prozent weniger als im vergangenen Jahr. Als Hoffnungszeichen werten Experten eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut-Instituts Marist Poll, nach der sechs von zehn Amerikanern sagen, Thanksgiving falle bei ihnen dieses Jahr kleiner aus als sonst.
Zum Beispiel bei den Masters aus dem kleinen Ort Minot in North Dakota. Statt der üblichen 19 Gäste wird Patriarch George diesmal nur sechs willkommen heißen. Einem Reporter der „Washington Post“erzählte der 70-jährige, er habe erst nichts vom Masken-Tragen gehalten. Wie seine ganze Familie nicht. „Wir sind alle Trump-Fans“.
Seit zwei Freunde an Covid-19 gestorben seien und der Virus sich in der Gemeinde wie ein Lauffeuer verbreite, habe er Respekt vor dem Erreger entwickelt. Kürzlich erwischte es auch einen Enkel und seine Töchter. „Es kommt bedrohlich nahe“, sagt er über die Realität in dem dünn besiedelten Präriestaat, der sich Dank der Ignoranz seiner Einwohner international zu einem führenden Corona-Hotspot mit einer der höchsten Pro-KopfInfektionsraten der Welt entwickelt hat. „Der Truthahn wird diesmal nur halb so groß ausfallen.“
In New York, das im Frühjahr die Schlagzeilen dominierte, greifen die örtlichen Behörden härter durch. Die traditionelle Thanksgivings-Day-Parade darf in diesem Jahr nur ohne Publikum stattfinden. Vorab aufgezeichnet vom Fernsehsender NBC in einem Straßenblock rund um das Stammhaus von MACYS in Manhattan. Pemberton Roach nimmt die Dinge fatalistisch. „Ich bin arbeitslos, pleite und allein“, beschreibt der Musiker einem Reporter in New York seine Stimmung am Vorabend von Thanksgiving. Die Parade und das Truthahn-Essen mit Freunden falle wegen Covid-19 aus. „Es gibt für mich Hot Dogs und eine Flasche Jim Beam an meinem Frühstückstisch.“