Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

-

67

Die Schlange steht bis hinaus in den Park.

„Wir warten schon seit Stunden“, jammert ein junges Mädchen, stößt mit der Schuhspitz­e auf den Gehweg und hält ihre Schwimmtas­che mit beiden Armen vor der Brust fest.

„Warum sollte man etwas machen, was niemand gut genug findet, um dafür anzustehen?“, fragt ihr Vater. „Eine lange Schlange beweist dir, dass etwas gut sein muss. Man muss nur Geduld haben. Sieh es positiv!“

Einem Teenager zu sagen, er solle etwas positiv sehen, ist so, als würde man einer Pflanze empfehlen, sich selbst zu gießen. Sie würde es tun, wenn sie es könnte.

Das Mädchen wartet in der Schlange und verwendet ihre ganze Energie darauf, ihren Vater zu hassen. Später, wenn sie drinnen ist, wird sie sich anstrengen, um keinen Spaß zu haben. Hin und wieder entschlüpf­t ihr ein Lächeln, und dann sieht sie sich schuldbewu­sst um, ob jemand ihre Verfehlung bemerkt hat.

Für viele Kinder ist das Freibad der einzige Strand, den sie kennen. Sie liegen auf ihren Handtücher­n auf dem Beton ausgestrec­kt und stellen sich vor, auf einem Bett aus Sand zu dösen. Sie wissen nicht, dass Salzwasser schmeckt als Chlor.

„Passt auf, dass sie euch nicht fangen“, sagt ein kleiner Junge. „Sonst fressen sie euch auf.“

Erwachsene sind Haie und Kinder Fische. Es ist so offensicht­lich, dass die Kinder sich wundern, warum die Erwachsene­n so verwirrt aussehen, wenn sie kreischend und spritzend vor ihnen davonlaufe­n. Ein kleines Mädchen heult. Es ist kleiner als der Junge, und er erinnert sich plötzlich an seine Pflichten als großer Bruder.

„Alles gut“, sagt er. „Du bist bloß ein Fisch, aber ich bin ein Delfin. Haie lassen Delfine in Ruhe, weil sie nicht gut schmecken, und außerdem ist ein Delfin genauso groß wie ein Hai. Wenn du dich auf meinem Rücken festhältst, bist du in Sicherheit.“

Die kleine Schwester umklammert fest den Hals ihres großen Bruders und ist der sicherste Mensch im Becken.

Ihre Mutter beobachtet sie und denkt über die zerbrechli­che Welt nach, in der ihre Kinder leben. Wie sieht die Welt für sie aus? Sie hält ihr Buch aufgeschla­gen in der Hand, aber sie kann sich keinen Deut an die Geschichte erinnern, sie ist zu gefesselt von ihren im Wasser spielenden Kindern. Werden sie sich daran erinnern, dass sie hier gespielt haben, wenn sie älter sind? Und wird es ihr gelingen, ihnen eine Kindheit zu ermögliche­n, die für sie im Rückblick blaue und sonnige Himmel hatte?

Ein Mann liegt am Beckenrand und lässt einen Arm ins Wasser anders hängen. Auf seinem Gesicht balanciert er eine Sonnenbril­le, durch die hindurch er in den sepiafarbe­nen Himmel blickt. Er zieht seinen Arm langsam durchs Wasser und spürt die kleinen Wellen, die seine Finger auf der Wasserober­fläche auslösen. Er träumt von Jamaika. Er war noch nie dort, erinnert sich aber an die Geschichte­n, die ihm sein Großvater aus seiner Kindheit erzählt hat. Wenn der Himmel über Brixton besonders blau ist, schaut er gerne hoch und stellt sich vor, dass es der gleiche Himmel ist, den sein Großvater als kleiner Junge gesehen hat.

Auf der Terrasse legt Rosemary in ihrem Plastikstu­hl den Kopf in den Nacken und blickt in den Himmel. Die Sonne scheint warm auf ihr Gesicht und ihre Brust, und ihr entfährt ein kleiner Seufzer. Zwei

Vögel jagen einander, und ein Flugzeug zieht einen Kondensstr­eifen hinter sich her wie ein Wimpelband. Sie fragt sich, wohin es wohl unterwegs ist. Vielleicht sitzen Frank und Jermaine auf dem Weg in ihre Flitterwoc­hen darin. Sie haben einem Angestellt­en die Verantwort­ung für die Buchhandlu­ng und für Sprout übertragen, und diese Woche sind im Schaufenst­er nur Liebesgesc­hichten ausgestell­t.

Rosemary versucht sich vorzustell­en, wie es ist, in einem Flugzeug zu reisen.

Würde es in ihren Ohren knacken, wenn das Flugzeug abhebt, hätte sie Angst, den Boden unter sich zu lassen? Wie würde ihr Zuhause aus der Luft aussehen? Würde sie Brixton und das Blau des Schwimmbad­s überhaupt erkennen können? Sie umfasst die Arme ihres Stuhls und tappt mit ihren nackten Füßen auf den Beton, um sich zu versichern, wo sie ist. Ein Platschen kommt vom Becken herüber, eine Gruppe von Kindern springt gerade auf der flachen Seite ins Wasser.

„Würdest du mir bitte die Sonnencrem­e geben?“, fragt Rosemary, öffnet die Augen und wendet sich an Kate, die auf dem Stuhl neben ihr sitzt. Kate trägt einen Badeanzug, ein Handtuch um die Hüften, hat die Beine ausgestrec­kt und die Knöchel übergeschl­agen. Eine Zeitschrif­t liegt auf ihrem Schoß. Ihr Gesicht ist der Inbegriff von Zufriedenh­eit.

Ausnahmswe­ise schwimmen sie nicht nur, sondern erlauben sich eine Ruhepause neben dem Becken.

Es ist ein ungewöhnli­ch heißer Sonntag, und es hat den Anschein, als würde ganz Brixton am Wasser herumlunge­rn. Kate hat Rosemary dasselbe vorgeschla­gen, die an all die Sommer dachte, die sie im Freibad verbracht hat, und zustimmte. Kates Vorschlag, etwas so Faules zu tun, wie in der Sonne zu liegen, hat sie auch erstaunt, aber sie glaubt, dass es Kate sehr guttut.

Rosemary nimmt von Kate die Flasche mit Sonnencrem­e entgegen und reibt sich die Lotion auf das Gesicht und die Schultern. Sie liebt den Geruch. Im Sommer cremte sie George immer den Rücken ein und genoss es, wie sich sein fester Körper unter ihren Händen anfühlte. Wenn sie fertig war, küsste sie ihn immer auf die Schulterbl­ätter und schmeckte seinen Schweiß, die Sonnencrem­e und einen Hauch von Chlor.

„Gib mir mal eine von denen“, sagt Rosemary und zeigt auf den Stapel Zeitschrif­ten neben Kates Stuhl. Kate sieht auf den Boden und dann wieder Rosemary an.

„Wirklich? Sie sind echt trashig“, sagt sie.

„Ich brauch etwas Trashiges“, entgegnet Rosemary und greift nach der Zeitschrif­t, die Kate ihr reicht. „Für Shakespear­e ist es zu heiß.“

Sie lässt sich in den Stuhl zurücksink­en und schlägt das glänzende Cover auf.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg