„Es bot sich ein Bild des Grauens“
Eindrücke aus den Stunden nach der Amokfahrt in der Trierer Innenstadt
Zielgerichteten Schrittes geht ein junger Mann auf das Absperrband zu. Der dünne Kunststoffstreifen trennt die Fleischstraße in der Trierer Fußgängerzone genau da, wo es um die Ecke rechts zum Hauptmarkt geht, ab. „Ich muss da jetzt durch“, sagt der Mann zu einer Polizistin, die ihre Maschinenpistole in der Hand hält, den Lauf nach unten gerichtet. Sie macht dem Passanten klar, dass der Zutritt zum Hauptmarkt für Unbefugte nicht möglich ist.
Der Mann zeigt keinerlei Verständnis; er zischt der Ordnungshüterin etwas zu. Ob er die Dimensionen des gerade laufenden Polizeieinsatzes begriffen hat, ist fraglich. Die junge Polizistin verliert kurz ihre Contenance, reagiert ebenfalls gereizt; doch dann fängt sie sich sofort wieder. Hunderte Male hat sie Passanten, die doch dringend noch dieses oder jenes erledigen müssen, abweisen müssen. Und Neugierigen bescheiden müssen: Wir wissen auch nicht, was genau passiert ist.
Marisol Cartagena ist keine Schaulustige. „Meine Praxis ist genau hier um die Ecke“, berichtet die Fachärztin für Frauenheilkunde knapp 20 Meter vom Flatterband entfernt stehend. „Ich habe die ganze Zeit Tatütata gehört und wir haben uns gewundert während der Untersuchung, was da los ist. Dann hat uns ein ehemaliger Azubi angerufen und Bescheid gesagt, dass wir bloß nicht aus dem Haus gehen sollen. Dass da draußen etwas Schlimmes los ist.“
Dr. Cartagena reagiert umgehend; sie sagt per Telefon anderen Arztpraxen und Bekannten Bescheid. Dann versucht sie, zu verhindern, dass weitere Passanten in die gefährliche Zone gehen. „Wir haben von der Tür aus versucht, den Leuten zu sagen, sie sollen einen anderen Weg einschlagen. Die guckten uns erst mal verdutzt an“, sagt sie. Keiner weiß in diesem Moment, es ist etwa 14 Uhr, was genau da eigentlich passiert ist. „Da muss man in solchen Fällen gucken, dass man zusammen bleibt. Dass man ruhig bleibt. Und dass man sich gegenseitig hilft“, sagt die Ärztin.
Irgendwann hieß es dann, dass ein Amoklauf passiert sei. „Da habe ich meine Tür offengehalten und gesagt: Hier, wenn einer reinkommen will, kommt rein“, sagt die Ärztin. „Aber es wollte keiner rein.“Was daran liegen mag, dass in weiten Teilen der Fleischstraße, etwa am Kornmarkt und weiter hinten, auch noch knapp eine Stunde nach den Ereignissen recht „normale“Verhältnisse herrschen: Menschen bummeln durch die Straßen, tragen Einkaufstüten mit sich herum. Doch Marisol Cartagena ahnt, wie ernst die Lage ist – und sie weiß, wie sie helfen könnte: „Wir haben Infusionsständer, wir haben Manpower“, erläutert sie mit ruhiger Stimme, die sie merklich anhebt, als ein Rettungshubschrauber über die Dächer der Altstadt fliegt. Dr. Cartagena bietet den Einsatzkräften ihre ärztlichen Dienste an, wird in die Nähe des Tatorts vorgelassen. Doch die anwesenden Notärzte haben die Lage im Griff; ihre zusätzliche Hilfe wird nicht benötigt.
Ein luxemburgisches Ehepaar kommt gerade aus der Shopping Mall „Trier Galerie“heraus. Die beiden haben den Hund beim Tierarzt abgegeben. Auch sie finden es ungewöhnlich, wie gewöhnlich die Stimmung zu diesem Zeitpunkt ist. Wie viele Umherstehende haben sie mitbekommen, dass etwas passiert ist; doch nichts Genaues weiß man. „Wir haben davon gehört und wissen nicht, ob wir hier bleiben oder besser wieder fahren sollen“, sagt der Mann. Seine Frau ist zwar nicht verängstigt, aber besorgt: „Man weiß ja nicht, ob es da noch jemanden gibt.“
Zur Tatzeit sind viele Schüler in der Stadt unterwegs
Das weiß zu diesem Zeitpunkt auch eine in Luxemburg arbeitende deutsche Grenzgängerin nicht. „Wir waren gerade bei mir Zuhause, als das Telefon klingelte“, erzählt sie dem „Luxemburger Wort“am späten Nachmittag. „Es waren die Töchter meiner Bekannten und die klangen völlig verängstigt.“
Eine der beiden jungen Frauen, eine 16-Jährige, kam gerade aus der Schule, die ältere, eine 20-Jährige, war mit ihrem eigenen dreijährigen Kind in der Stadt. „Sie waren gerade gemeinsam unweit der Porta Nigra unterwegs, als sie plötzlich sahen, wie ein Autofahrer durch die Menschen fuhr, wie Passanten und auch Schuhe durch die Luft flogen.“
Die Grenzgängerin betont: „Das Perfide ist, dass um die Zeit gerade an der Bushaltestelle zwischen Karstadt und Porta Nigra sehr viele Schüler unterwegs sind. Dort befinden sich nämlich gleich zwei Gymnasien und zum Zeitpunkt des Geschehens war der Unterricht gerade beendet.“
Doch trotz der großen Unsicherheit handelte die Grenzgängerin: Nur wenige Minuten nach dem Telefonat eilte sie mit ihrer Freundin zum Warenhaus Karstadt an der Fußgängerzone, um deren völlig verängstigte Kinder und das Enkelkind in Sicherheit zu bringen, die dort Unterschlupf gefunden hatten. „Die Kinder waren völlig verängstigt und wollten nur noch da raus“, erklärt die 46-Jährige. „Zu diesem Zeitpunkt war noch nichts abgesperrt, zudem konnten sie nicht sehen, ob der Amokfahrer nicht doch noch unterwegs war.“
Die 46-Jährige fährt fort: „Überall sind Menschen völlig panisch und planlos umher gelaufen.“Der Wagen sei, als er an den Kindern vorbeifuhr, wohl schon eine weite Strecke durch die Fußgängerzone gerast. Es sei klar, dass die Kinder ihrer Bekannten traumatisiert seien. Man sei nun aber vor allem in Gedanken bei den Opfern und deren Angehörigen.
Nicht nur bei direkten Angehörigen, sondern bei zahlreichen Trierern verbreitet sich die Nachricht, dass da etwas Großes, vielleicht sogar etwas Furchtbares in der Stadt passiert sein könnte, in Windeseile über die sozialen Netzwerke. In Whatsapp-Gruppen und persönlichen Nachrichten erfolgen Hinweise wie „Liebe Alle, bitte meidet die Trierer Innenstadt!“. „Hey, war hier ein Anschlag?“, schreibt eine Bekannte, die in der Innenstadt arbeitet, dem Reporter. Erste Gerüchte über ein Auto, das in eine Menschenmenge gefahren sei, verbreiten sich. Irgendwann nehmen die Gerüchte derart überhand, dass die Polizei warnt: „Zum Geschehen in #Trier: Bitte verbreiten Sie keine Spekulationen.“
Nach und nach sperren städtische Angestellte die Zufahrten zur Fußgängerzone, die zunächst nur mit Flatterband abgetrennt worden waren, mit mobilen Barken ab. Weite Teile der Altstadt gelten nun als Tatort, der für die nächsten Stunden von der Spurensicherung be
Ich hatte bis vor drei Minuten Todesangst um meine Tochter, sie wohnt seit gestern da. Aber dann hat sie sich endlich gemeldet. Eine Mutter