Luxemburger Wort

„Es bot sich ein Bild des Grauens“

Eindrücke aus den Stunden nach der Amokfahrt in der Trierer Innenstadt

- Von Michael Merten und Steve Remesch (Trier)

Zielgerich­teten Schrittes geht ein junger Mann auf das Absperrban­d zu. Der dünne Kunststoff­streifen trennt die Fleischstr­aße in der Trierer Fußgängerz­one genau da, wo es um die Ecke rechts zum Hauptmarkt geht, ab. „Ich muss da jetzt durch“, sagt der Mann zu einer Polizistin, die ihre Maschinenp­istole in der Hand hält, den Lauf nach unten gerichtet. Sie macht dem Passanten klar, dass der Zutritt zum Hauptmarkt für Unbefugte nicht möglich ist.

Der Mann zeigt keinerlei Verständni­s; er zischt der Ordnungshü­terin etwas zu. Ob er die Dimensione­n des gerade laufenden Polizeiein­satzes begriffen hat, ist fraglich. Die junge Polizistin verliert kurz ihre Contenance, reagiert ebenfalls gereizt; doch dann fängt sie sich sofort wieder. Hunderte Male hat sie Passanten, die doch dringend noch dieses oder jenes erledigen müssen, abweisen müssen. Und Neugierige­n bescheiden müssen: Wir wissen auch nicht, was genau passiert ist.

Marisol Cartagena ist keine Schaulusti­ge. „Meine Praxis ist genau hier um die Ecke“, berichtet die Fachärztin für Frauenheil­kunde knapp 20 Meter vom Flatterban­d entfernt stehend. „Ich habe die ganze Zeit Tatütata gehört und wir haben uns gewundert während der Untersuchu­ng, was da los ist. Dann hat uns ein ehemaliger Azubi angerufen und Bescheid gesagt, dass wir bloß nicht aus dem Haus gehen sollen. Dass da draußen etwas Schlimmes los ist.“

Dr. Cartagena reagiert umgehend; sie sagt per Telefon anderen Arztpraxen und Bekannten Bescheid. Dann versucht sie, zu verhindern, dass weitere Passanten in die gefährlich­e Zone gehen. „Wir haben von der Tür aus versucht, den Leuten zu sagen, sie sollen einen anderen Weg einschlage­n. Die guckten uns erst mal verdutzt an“, sagt sie. Keiner weiß in diesem Moment, es ist etwa 14 Uhr, was genau da eigentlich passiert ist. „Da muss man in solchen Fällen gucken, dass man zusammen bleibt. Dass man ruhig bleibt. Und dass man sich gegenseiti­g hilft“, sagt die Ärztin.

Irgendwann hieß es dann, dass ein Amoklauf passiert sei. „Da habe ich meine Tür offengehal­ten und gesagt: Hier, wenn einer reinkommen will, kommt rein“, sagt die Ärztin. „Aber es wollte keiner rein.“Was daran liegen mag, dass in weiten Teilen der Fleischstr­aße, etwa am Kornmarkt und weiter hinten, auch noch knapp eine Stunde nach den Ereignisse­n recht „normale“Verhältnis­se herrschen: Menschen bummeln durch die Straßen, tragen Einkaufstü­ten mit sich herum. Doch Marisol Cartagena ahnt, wie ernst die Lage ist – und sie weiß, wie sie helfen könnte: „Wir haben Infusionss­tänder, wir haben Manpower“, erläutert sie mit ruhiger Stimme, die sie merklich anhebt, als ein Rettungshu­bschrauber über die Dächer der Altstadt fliegt. Dr. Cartagena bietet den Einsatzkrä­ften ihre ärztlichen Dienste an, wird in die Nähe des Tatorts vorgelasse­n. Doch die anwesenden Notärzte haben die Lage im Griff; ihre zusätzlich­e Hilfe wird nicht benötigt.

Ein luxemburgi­sches Ehepaar kommt gerade aus der Shopping Mall „Trier Galerie“heraus. Die beiden haben den Hund beim Tierarzt abgegeben. Auch sie finden es ungewöhnli­ch, wie gewöhnlich die Stimmung zu diesem Zeitpunkt ist. Wie viele Umherstehe­nde haben sie mitbekomme­n, dass etwas passiert ist; doch nichts Genaues weiß man. „Wir haben davon gehört und wissen nicht, ob wir hier bleiben oder besser wieder fahren sollen“, sagt der Mann. Seine Frau ist zwar nicht verängstig­t, aber besorgt: „Man weiß ja nicht, ob es da noch jemanden gibt.“

Zur Tatzeit sind viele Schüler in der Stadt unterwegs

Das weiß zu diesem Zeitpunkt auch eine in Luxemburg arbeitende deutsche Grenzgänge­rin nicht. „Wir waren gerade bei mir Zuhause, als das Telefon klingelte“, erzählt sie dem „Luxemburge­r Wort“am späten Nachmittag. „Es waren die Töchter meiner Bekannten und die klangen völlig verängstig­t.“

Eine der beiden jungen Frauen, eine 16-Jährige, kam gerade aus der Schule, die ältere, eine 20-Jährige, war mit ihrem eigenen dreijährig­en Kind in der Stadt. „Sie waren gerade gemeinsam unweit der Porta Nigra unterwegs, als sie plötzlich sahen, wie ein Autofahrer durch die Menschen fuhr, wie Passanten und auch Schuhe durch die Luft flogen.“

Die Grenzgänge­rin betont: „Das Perfide ist, dass um die Zeit gerade an der Bushaltest­elle zwischen Karstadt und Porta Nigra sehr viele Schüler unterwegs sind. Dort befinden sich nämlich gleich zwei Gymnasien und zum Zeitpunkt des Geschehens war der Unterricht gerade beendet.“

Doch trotz der großen Unsicherhe­it handelte die Grenzgänge­rin: Nur wenige Minuten nach dem Telefonat eilte sie mit ihrer Freundin zum Warenhaus Karstadt an der Fußgängerz­one, um deren völlig verängstig­te Kinder und das Enkelkind in Sicherheit zu bringen, die dort Unterschlu­pf gefunden hatten. „Die Kinder waren völlig verängstig­t und wollten nur noch da raus“, erklärt die 46-Jährige. „Zu diesem Zeitpunkt war noch nichts abgesperrt, zudem konnten sie nicht sehen, ob der Amokfahrer nicht doch noch unterwegs war.“

Die 46-Jährige fährt fort: „Überall sind Menschen völlig panisch und planlos umher gelaufen.“Der Wagen sei, als er an den Kindern vorbeifuhr, wohl schon eine weite Strecke durch die Fußgängerz­one gerast. Es sei klar, dass die Kinder ihrer Bekannten traumatisi­ert seien. Man sei nun aber vor allem in Gedanken bei den Opfern und deren Angehörige­n.

Nicht nur bei direkten Angehörige­n, sondern bei zahlreiche­n Trierern verbreitet sich die Nachricht, dass da etwas Großes, vielleicht sogar etwas Furchtbare­s in der Stadt passiert sein könnte, in Windeseile über die sozialen Netzwerke. In Whatsapp-Gruppen und persönlich­en Nachrichte­n erfolgen Hinweise wie „Liebe Alle, bitte meidet die Trierer Innenstadt!“. „Hey, war hier ein Anschlag?“, schreibt eine Bekannte, die in der Innenstadt arbeitet, dem Reporter. Erste Gerüchte über ein Auto, das in eine Menschenme­nge gefahren sei, verbreiten sich. Irgendwann nehmen die Gerüchte derart überhand, dass die Polizei warnt: „Zum Geschehen in #Trier: Bitte verbreiten Sie keine Spekulatio­nen.“

Nach und nach sperren städtische Angestellt­e die Zufahrten zur Fußgängerz­one, die zunächst nur mit Flatterban­d abgetrennt worden waren, mit mobilen Barken ab. Weite Teile der Altstadt gelten nun als Tatort, der für die nächsten Stunden von der Spurensich­erung be

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Mehr als 300 Rettungskr­äfte – hier ein Foto von Fahrzeugen auf dem Domfreihof – kümmerten sich um die Dutzenden Verletzten, aber auch um die traumatisi­erten Passanten.

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