Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Die Hälfte der Bücher liegen auf dem Boden und warten darauf, wieder auf ihr sauberes Regal gestellt zu werden. Die Möbel sind verrückt. Es ist ihr gelungen, das Sofa vorzuziehe­n, so dass sie darunter saugen konnte, aber dann hat sie es nicht mehr geschafft, es wieder an seinen Platz zu schieben, und jetzt steht es einfach im Zimmer herum.

Beim Saubermach­en hört sie die heutigen Mailbox-Nachrichte­n ab, die Stimmen ihrer Freunde erfüllen die Wohnung wie Parfüm.

„Ich habe Aiesha heute Morgen mit ins Freibad genommen“, sagt Hope, als Rosemary nach dem Staubwedel greift. „Sie schwimmt jetzt schon so gut. Sie braucht nicht mal mehr Schwimmflü­gel. Ich wünschte, du hättest sie gesehen.“

Hope räuspert sich, und Rosemary, die gerade den Wohnzimmer­tisch abgestaubt hat, dreht sich zum Anrufbeant­worter um und wartet darauf, dass ihre Freundin weiterspri­cht.

„Ich schaue morgen wieder bei dir vorbei. Ich weiß, du hast gesagt, du kannst nicht, aber ich hoffe, ich kann dich davon überzeugen, zum Schwimmen zu kommen. Ich weiß, es ist schwer, aber wir haben nicht mehr lang. Ich hasse den Gedanken, dass du es verpasst. Wie auch immer, tschüss für heute, wir sehen uns morgen.“Die Maschine klickt, und Hopes Stimme geht in eine tiefere Stimme über, die eines Mannes. Die Stimme hustet.

„Mrs P? Hier ist Ellis. Ich rufe nur an, um zu hören, wie es Ihnen geht. Hier wartet eine Tüte Tomaten und Erdbeeren, da steht Ihr Name drauf, für das nächste Mal, wenn Sie bei mir vorbeikomm­en. Das war es auch schon.“

Er hustet erneut.

„Tschüss, tschüss!“

„Tschüss«, antwortet Rosemary. Ihre Freunde haben alle ein Auge auf sie, das weiß sie. Es ist, als wechselten sie sich damit ab, sie anzurufen oder vorbeizuko­mmen. Jedes Mal probieren sie eine neue Taktik aus, um sie dazu zu bewegen, die Wohnung zu verlassen und ins Freibad zu kommen. Aber es ist keinem von ihnen gelungen.

Sie stellt den Staubwedel ab und sieht sich im Zimmer um. Durch die vielen Kisten und Tüten und die verrückten Möbel sieht es so aus, als wollte sie ausziehen oder in Urlaub fahren. Aber wohin sollte sie reisen?

Sie setzt sich auf den Boden und lehnt sich gegen das Sofa, wobei sie sich daran erinnert, dass Kate dort gesessen und auf ihrem Laptop getippt hat, als Rosemary ihre Grippe ausschlief. Obwohl sich ihre Wohnung im vierten Stock befindet, gibt ihr das Sitzen auf dem Teppich das Gefühl, nah am Boden zu sein, und ihr Kopf dreht sich langsamer.

Sie möchte sich hinlegen, also tut sie es, streckt sich auf dem Boden

aus. Sie verschränk­t die Hände über dem Bauch und liegt da und starrt an die Decke.

Ein feiner Riss verästelt sich von der Lampe in der Zimmermitt­e aus, und in der Ecke blättert die Farbe ab. Sie fragt sich, ob sie dort streichen könnte, aber ihr fällt nicht ein, wo die Malerpinse­l sind. Vielleicht hat sie sie zusammen mit der Trittleite­r und der Bohrmaschi­ne weggeworfe­n.

Plötzlich ist sie erschöpft. Das muss am Putzen liegen, denkt sie. Sie hat zu viel zu schnell erledigt. Sie schließt die Augen. Noch mit geschlosse­nen Augen kann sie den feinen Riss und die abblättern­de Farbe sehen, und so versucht sie sich stattdesse­n auf den blauen Himmel und die vorbeizieh­enden Wolken zu konzentrie­ren, die sich in ihr Bewusstsei­n drängen. Vielleicht

haben ihre Nachbarn Farbe. Sie wird sie gleich fragen.

Rosemary erwacht vom Klopfen an der Tür. Schnell setzt sie sich auf, dabei wird ihr schwindeli­g. Sie stützt sich auf der Sofakante ab, steht langsam auf und schlurft zur Tür.

„Ich komme, ich komme.“

Sie öffnet die Tür und sieht Jay im Flur stehen.

„Rosemary“, sagt er.

„Jay.“

Er füllt den Türrahmen beinahe aus, sein zerstrubbe­ltes Haar leuchtet um seinen Kopf, als stünde er vor einer hellen Lampe. Er hat ein freundlich­es Lächeln im Gesicht, aber Rosemary blickt ihn finster an.

„Wie bist du hier raufgekomm­en?“, fragt sie und blickt um ihn herum in den Flur.

„Jemand hat mich unten reingelass­en. Kann ich reinkommen?“

„Tja, jetzt bist du ja schon mal hier, denke ich“, sagt sie und wendet sich um. Er folgt ihr in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich. Dann blickt er sich im Zimmer um, registrier­t das Chaos, die verschoben­en Möbel und die Müllsäcke in der Ecke.

„Ich putze“, sagt Rosemary und setzt sich aufs Sofa.

„Das sehe ich.“

Sie sitzt da und schaut ihn an, ohne etwas zu sagen.

„Soll ich eine Tasse Tee machen?“, fragt Jay nach einer Weile.

„Ich habe gerade eine gemacht“, sagt sie, nimmt ihre Tasse und trinkt einen Schluck. Der Tee ist kalt.

„Oh, ich muss länger geschlafen haben, als ich dachte“, sagt sie und reicht ihm den Becher.

„Tut mir leid, habe ich dich geweckt?“

Sie wedelt mit der Hand und schüttelt den Kopf. Sie wünschte, sie hätte nichts davon gesagt. Dass sie mitten am Tag eingeschla­fen ist, beschämt sie. Wie viel Uhr ist es? Sie blickt auf ihre Armbanduhr: Viertel nach eins. Jay trägt den Becher in die Küche. Ein paar Minuten später kommt er mit zwei dampfenden Bechern zurück. Er reicht Rosemary einen davon und setzt sich neben sie. Sie nippen an ihrem Tee.

„Wie geht es Kate?“, fragt Rosemary nach ein paar Schlucken. „Sie hat versucht, mich zu besuchen. Und angerufen.“

„Sie ist still“, antwortet Jay. „Sehr still. Bei der Arbeit hebt sie nie den Kopf. Ich habe versucht, sie aufzumunte­rn, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Sie will nicht reden. Ich glaube, sie ist einfach wahnsinnig enttäuscht. Das seid ihr sicher beide.“

Er wendet sich ihr zu. Seinen Becher hält er mit beiden Händen umschlunge­n, und Rosemary denkt, er sieht aus wie ein besorgter kleiner Junge. Es macht sie traurig, und obwohl sie ihn nur widerwilli­g hereingela­ssen hat, ist es irgendwie schön, dass er neben ihr sitzt.

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