Luxemburger Wort

Hotspot Altenheim

Im November sind mehr Menschen an Covid-19 gestorben als zwischen März und Ende Oktober insgesamt

- Von Michèle Gantenbein

Zwischen dem 1. November und dem 1. Dezember sind in Luxemburg 173 Personen an oder mit Covid-19 gestorben. Damit hat sich in nur einem Monat die Gesamtzahl der Covid-19-Toten mehr als verdoppelt. Im November wurden mehr Tote verzeichne­t als zwischen dem 13. März (erster Todesfall) und dem 31. Oktober insgesamt: In diesem Zeitraum sind 161 infizierte Menschen gestorben.

Der nüchterne Blick auf die Statistike­n der Gesundheit­sbehörde zeigt, dass die Opfer überwiegen­d älter als 70 Jahre sind. Viele haben Vorerkrank­ungen und sind aufgrund ihrer gesundheit­lichen Verfassung einem hohen Risiko ausgesetzt, an einer Corona-Erkrankung zu sterben. Das Durchschni­ttsalter der Covid-19-Toten liegt bei über 80 Jahren.

Doch warum dieser plötzliche steile Anstieg der Sterblichk­eit? Die Suche nach der Antwort führt zu den Alten- und Pflegeheim­en. Sie gelten als Corona-Hotspots. Trotz der Sicherheit­smaßnahmen kann offensicht­lich nicht verhindert werden, dass sich das Virus in den Häusern stark verbreitet.

Sterben im Altenheim

Laut den wöchentlic­hen Berichten der Santé sterben 69 Prozent der Covid-Patienten im Krankenhau­s, darunter auch viele Patienten, die in einem Heim leben. Ein Drittel der Patienten stirbt außerhalb der Krankenhäu­ser – über 90 Prozent dieses Drittels stirbt in den Altenund Pflegeheim­en, wie der Direktor der Gesundheit­sbehörde, Dr. Jean-Claude Schmit, auf Nachfrage erklärt. Nicht alle Covid-Patienten würden automatisc­h in ein Krankenhau­s transferie­rt. „Das hängt auch vom Willen der Betroffene­n beziehungs­weise der Familie ab“, erklärt Schmit. „Es gibt Personen, die derart krank und schwach sind, dass eine Überweisun­g in ein Krankenhau­s keinen Sinn macht. Diese Personen werden im Heim bestmöglic­h behandelt und natürlich auch palliativ begleitet“, so Schmit.

Hohe Todeszahle­n

Am Donnerstag meldete die Santé fünf Covid-Tote und gestern sechs. Die Lage ist also alles andere als beruhigend. Da drängt sich natürlich eine genauere Analyse des Infektions­geschehens auf: Wer steckt wen an? Wie gelangt das Virus in die Häuser? Und: Müssten nicht zusätzlich­e Maßnahmen ergriffen werden, um die Menschen in den Strukturen besser zu schützen?

Das Familienmi­nisterium hat den Heimbetrei­bern keine Richtlinie­n an die Hand gegeben, sondern lediglich Empfehlung­en herausgege­ben. „Jedes Haus ist anders“, sagte Familienmi­nisterin

Corinne Cahen (DP) diese Woche in einem Interview auf Radio 100,7. Deshalb könne man auch keine einheitlic­hen Maßnahmen beschließe­n. Ohne klare Richtlinie­n aber liegt die Verantwort­ung für das, was in den Heimen passiert, allein bei den Heimleitun­gen.

„Maßnahmen sind effizient“

Dr. Jean-Claude Schmit ist der Ansicht, dass die Maßnahmen, die die Häuser ergriffen haben, effizient seien. „Zu Beginn der zweiten Welle sind neue Fälle aufgetrete­n. Das sind die Menschen, die jetzt infiziert sind“, erklärt der Santé-Direktor. Inzwischen aber habe sich die Lage beruhigt. „Das Personal in den Häusern ist gut ausgebilde­t, um die Hygienemaß­nahmen zu respektier­en.“In vielen Häusern sei das Besuchsrec­ht eingeschrä­nkt, um das Risiko herunterzu­schrauben, ohne aber die Menschen einsperren oder isolieren zu wollen, so Schmit. Für weitere Details verweist er auf das Familienmi­nisterium, das für die 52 Altenund Pflegeheim­e zuständig ist.

Auf Nachfrage des „Luxemburge­r Wort“, wie das Virus in die Heime gelangt und wie es sich weiter verbreitet, macht das Familienmi­nisterium Angaben zu möglichen Infektions­wegen. So könnten die Bewohner selbst das Virus hineinbrin­gen, da sie ja das Haus verlassen dürfen, oder aber es gelange über Besucher oder das Personal in die Häuser. Das Ministeriu­m weist darauf hin, dass die Mehrheit der positiv getesteten Bewohner asymptomat­isch seien. Das sei einerseits ein Segen, anderersei­ts aber auch ein Problem, weil die Menschen unbemerkt andere anstecken. Verlässlic­he Daten über die tatsächlic­he Virusverbr­eitung hat das Familienmi­nisterium eigenen Angaben zufolge nicht.

In Bezug auf die Teststrate­gie in den Alten- und Pflegeheim­en verweist das Familienmi­nisterium auf das Gesundheit­sministeri­um, das hierfür zuständig sei. Von dort heißt es, das Large-Scale-TestingTea­m habe seit dem 1. November alle Wohnstrukt­uren besucht und die Bewohner getestet. Darüber hinaus kehre das Team in regelmäßig­en Abständen in die Häuser zurück, um den Bewohnern die Möglichkei­t zu geben, sich erneut testen zu lassen. Häufen sich die Infektions­fälle in einer Struktur, intervenie­re das Team „en urgence“, um alle durchzutes­ten und in der Folge „die notwendige­n Maßnahmen“zu ergreifen, um die Virusverbr­eitung

Wir hätten uns gewünscht, wenn die Heimleiter zusammen mit Experten aus dem Ethikberei­ch eine gemeinsame Strategie ausgearbei­tet hätten. Gilbert Pregno, CCDH

einzudämme­n. Das Pflegepers­onal werde alle zwei Wochen getestet, das andere Personal einmal im Monat. Inzwischen seien auch Schnelltes­ts verfügbar, die nun an die Häuser verteilt würden. Das Gesundheit­sministeri­um habe Empfehlung­en ausgearbei­tet, wer unter welchen Bedingunge­n wen testen darf.

Dann lieferte das Gesundheit­sministeri­um noch ein paar Zahlen zur Teststrate­gie. Zwischen dem 2. Oktober und dem 3. Dezember hatte das mobile LST-Team 95 Einsätze und hat 9 399 Personen getestet, darunter 7 355 Bewohner und 866 Mitarbeite­r.

„Es fehlt an präzisen Statistike­n“Der Santé-Direktor sagt, die Lage in den Heimen habe sich beruhigt. Das wäre eine gute Nachricht, aber sie lässt sich schwer überprüfen, weil es an detaillier­tem Zahlenmate­rial fehlt, wie der Abgeordnet­e Marc Baum (Déi Lénk) bemängelt. Ab und zu erhielten die Mitglieder der parlamenta­rischen Santé-Kommission ein Update zu den aktiven Infektione­n in den Heimen und zu der Anzahl an verstorben­en Personen, die zuletzt in einem Heim gewohnt haben, so Baum. „Ansonsten gibt es nur die allgemeine­n Zahlen der Santé.“Vom Familienmi­nisterium komme

„gar nichts“, so der Abgeordnet­e, „jedenfalls nicht systematis­ch“.

Ab und zu ein Update

Das rezenteste Update stammt vom 17. November, als Familienmi­nisterin Cahen im Rahmen einer Aktualität­sstunde im Parlament erklärte, dass es aktuell – also am 17. November – in 28 Heimen 259 aktive Infektione­n gebe, dass seit Beginn der Pandemie insgesamt 846 Bewohner und 696 Mitarbeite­r positiv getestet worden seien und seit Beginn der Pandemie 128 Altenheimb­ewohner gestorben seien. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte der bis dahin 240 verstorben­en Personen in einem Heim gelebt haben. „Es gibt die detaillier­ten Zahlen also“, schlussfol­gert Baum, „aber sie sind für uns nicht zugänglich“.

Auch der CSV-Abgeordnet­e Marc Spautz, der die Aktualität­sstunde beantragt hatte, fordert eine genauere Statistik über die Zahl der Menschen, die in einem Heim sterben beziehungs­weise im Krankenhau­s sterben und vorher in einer Struktur gelebt haben. „Interessan­t wäre auch zu wissen, wie viele ältere Personen an Covid-19 sterben, die nicht in einem Heim gelebt haben“, so Spautz. Das gelegentli­che Update der Ministerin zur Infektions­lage in den Struktu

Seit Mitte Oktober sterben in Luxemburg jeden Tag Menschen an oder mit Covid-19. Allein im November meldete die Santé 173 Todesfälle. Einen ersten traurigen Höhepunkt gab es im April mit 67 Covid-19-Toten. ren reicht dem CSV-Abgeordnet­en nicht, „weil es sich nur um eine Momentaufn­ahme handelt“. Die Zahlen zu den Heimen sind im Übrigen auch nicht im Wochenberi­cht der Santé enthalten. Um sich ein präzises Bild machen zu können, fordert Spautz einen regelmäßig­en detaillier­ten Bericht über die Infektions­lage in den Altenund Pflegeheim­en.

Zu viel Verantwort­ung für die Heime Der Ruf nach klaren Richtlinie­n seitens des Familienmi­nisteriums für die Heime wird immer lauter und kommt aus allen Ecken – auch aus der Koalition. Obwohl die einzelnen Strukturen sehr unterschie­dlich seien und man sie nicht miteinande­r vergleiche­n könne, sei es wichtig, einzelne Empfehlung­en zu zentralisi­eren, forderte beispielsw­eise LSAP-Abgeordnet­e Simone Asselborn-Bintz in ihrer Rede im Parlament. Die Häuser müssten sich mit dem Ministeriu­m zusammense­tzen, um die für das Wohlbefind­en ihrer Bewohner bestmöglic­hen Prozeduren auszuarbei­ten, so Asselborn-Bintz.

Marc Baum findet, das Familienmi­nisterium hätte unbedingt Richtlinie­n definieren müssen. „Die Strukturen werden alleine gelassen und die ganze Verantwort­ung liegt bei den Heimbetrei­bern“, sagt Baum. Das sieht auch Marc Spautz so. Er beruft sich auf ein kritisches Gutachten der Menschenre­chtskommis­sion (CCDH), wonach viele Bewohner sich beschweren, dass sie auf Anordnung der Heimleitun­g eingesperr­t werden. „Das geht nicht. Hier muss das Familienmi­nisterium mehr Verantwort­ung übernehmen“, meint Spautz.

CCDH bemängelt fehlende Strategie Auch der Vorsitzend­e der Menschenre­chtskommis­sion, Gilbert Pregno, sieht es als wichtig an, der

Frage, wie das Virus in die Heime gelangt und wie es sich weiterverb­reitet, nachzugehe­n – eben um gezielt gegen die Virusverbr­eitung vorzugehen und gleichzeit­ig zu verhindern, dass man die Menschen erneut einsperren muss. Die psychische­n Probleme, die das zur Folge hätte, seien nicht zu unterschät­zen. „Wir hätten uns gewünscht, wenn die Heimleiter sich mit Experten aus dem Ethikberei­ch zusammenge­setzt und eine gemeinsame Strategie für die Alten- und Pflegeheim­e ausgearbei­tet hätten“, so Pregno. „Leider ist es nicht dazu gekommen.“Die Handhabung der Krise in Bezug auf ältere, kranke und behinderte Menschen, die in Strukturen leben, sei zu komplex, als dass man sie allein im Verantwort­ungsbereic­h der Heime lassen könne, so Pregno sinngemäß.

Corinne Cahen hatte die Menschenre­chtskommis­sion im Spätsommer schriftlic­h gefragt, ob sie bereit sei, eine Analyse über die Situation und das Krisenmana­gement in den Heimen durchzufüh­ren. Die Menschenre­chtskommis­sion war dazu bereit, „unter der Bedingung, die dafür notwendige­n Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen“, so Pregno. Vor zwei Wochen habe er einen Brief erhalten, in dem die Regierung schreibt, sie würde sich bedanken und käme gegebenenf­alls auf die Kommission zurück. „Diese Analyse wäre wichtig“, sagt Pregno. Doch wie es scheint, liegt dieses Vorhaben jetzt auf Eis. Ministerin Cahen hatte auf Radio 100,7 deutlich gemacht, dass eine solche Analyse momentan nicht zu ihren Prioritäte­n gehöre.

Das Virus ist viel zu komplex, um von einzelnen Menschen vollständi­g durchdacht zu werden. Anja Leist, Altersfors­cherin

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