Hotspot Altenheim
Im November sind mehr Menschen an Covid-19 gestorben als zwischen März und Ende Oktober insgesamt
Zwischen dem 1. November und dem 1. Dezember sind in Luxemburg 173 Personen an oder mit Covid-19 gestorben. Damit hat sich in nur einem Monat die Gesamtzahl der Covid-19-Toten mehr als verdoppelt. Im November wurden mehr Tote verzeichnet als zwischen dem 13. März (erster Todesfall) und dem 31. Oktober insgesamt: In diesem Zeitraum sind 161 infizierte Menschen gestorben.
Der nüchterne Blick auf die Statistiken der Gesundheitsbehörde zeigt, dass die Opfer überwiegend älter als 70 Jahre sind. Viele haben Vorerkrankungen und sind aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung einem hohen Risiko ausgesetzt, an einer Corona-Erkrankung zu sterben. Das Durchschnittsalter der Covid-19-Toten liegt bei über 80 Jahren.
Doch warum dieser plötzliche steile Anstieg der Sterblichkeit? Die Suche nach der Antwort führt zu den Alten- und Pflegeheimen. Sie gelten als Corona-Hotspots. Trotz der Sicherheitsmaßnahmen kann offensichtlich nicht verhindert werden, dass sich das Virus in den Häusern stark verbreitet.
Sterben im Altenheim
Laut den wöchentlichen Berichten der Santé sterben 69 Prozent der Covid-Patienten im Krankenhaus, darunter auch viele Patienten, die in einem Heim leben. Ein Drittel der Patienten stirbt außerhalb der Krankenhäuser – über 90 Prozent dieses Drittels stirbt in den Altenund Pflegeheimen, wie der Direktor der Gesundheitsbehörde, Dr. Jean-Claude Schmit, auf Nachfrage erklärt. Nicht alle Covid-Patienten würden automatisch in ein Krankenhaus transferiert. „Das hängt auch vom Willen der Betroffenen beziehungsweise der Familie ab“, erklärt Schmit. „Es gibt Personen, die derart krank und schwach sind, dass eine Überweisung in ein Krankenhaus keinen Sinn macht. Diese Personen werden im Heim bestmöglich behandelt und natürlich auch palliativ begleitet“, so Schmit.
Hohe Todeszahlen
Am Donnerstag meldete die Santé fünf Covid-Tote und gestern sechs. Die Lage ist also alles andere als beruhigend. Da drängt sich natürlich eine genauere Analyse des Infektionsgeschehens auf: Wer steckt wen an? Wie gelangt das Virus in die Häuser? Und: Müssten nicht zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Menschen in den Strukturen besser zu schützen?
Das Familienministerium hat den Heimbetreibern keine Richtlinien an die Hand gegeben, sondern lediglich Empfehlungen herausgegeben. „Jedes Haus ist anders“, sagte Familienministerin
Corinne Cahen (DP) diese Woche in einem Interview auf Radio 100,7. Deshalb könne man auch keine einheitlichen Maßnahmen beschließen. Ohne klare Richtlinien aber liegt die Verantwortung für das, was in den Heimen passiert, allein bei den Heimleitungen.
„Maßnahmen sind effizient“
Dr. Jean-Claude Schmit ist der Ansicht, dass die Maßnahmen, die die Häuser ergriffen haben, effizient seien. „Zu Beginn der zweiten Welle sind neue Fälle aufgetreten. Das sind die Menschen, die jetzt infiziert sind“, erklärt der Santé-Direktor. Inzwischen aber habe sich die Lage beruhigt. „Das Personal in den Häusern ist gut ausgebildet, um die Hygienemaßnahmen zu respektieren.“In vielen Häusern sei das Besuchsrecht eingeschränkt, um das Risiko herunterzuschrauben, ohne aber die Menschen einsperren oder isolieren zu wollen, so Schmit. Für weitere Details verweist er auf das Familienministerium, das für die 52 Altenund Pflegeheime zuständig ist.
Auf Nachfrage des „Luxemburger Wort“, wie das Virus in die Heime gelangt und wie es sich weiter verbreitet, macht das Familienministerium Angaben zu möglichen Infektionswegen. So könnten die Bewohner selbst das Virus hineinbringen, da sie ja das Haus verlassen dürfen, oder aber es gelange über Besucher oder das Personal in die Häuser. Das Ministerium weist darauf hin, dass die Mehrheit der positiv getesteten Bewohner asymptomatisch seien. Das sei einerseits ein Segen, andererseits aber auch ein Problem, weil die Menschen unbemerkt andere anstecken. Verlässliche Daten über die tatsächliche Virusverbreitung hat das Familienministerium eigenen Angaben zufolge nicht.
In Bezug auf die Teststrategie in den Alten- und Pflegeheimen verweist das Familienministerium auf das Gesundheitsministerium, das hierfür zuständig sei. Von dort heißt es, das Large-Scale-TestingTeam habe seit dem 1. November alle Wohnstrukturen besucht und die Bewohner getestet. Darüber hinaus kehre das Team in regelmäßigen Abständen in die Häuser zurück, um den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, sich erneut testen zu lassen. Häufen sich die Infektionsfälle in einer Struktur, interveniere das Team „en urgence“, um alle durchzutesten und in der Folge „die notwendigen Maßnahmen“zu ergreifen, um die Virusverbreitung
Wir hätten uns gewünscht, wenn die Heimleiter zusammen mit Experten aus dem Ethikbereich eine gemeinsame Strategie ausgearbeitet hätten. Gilbert Pregno, CCDH
einzudämmen. Das Pflegepersonal werde alle zwei Wochen getestet, das andere Personal einmal im Monat. Inzwischen seien auch Schnelltests verfügbar, die nun an die Häuser verteilt würden. Das Gesundheitsministerium habe Empfehlungen ausgearbeitet, wer unter welchen Bedingungen wen testen darf.
Dann lieferte das Gesundheitsministerium noch ein paar Zahlen zur Teststrategie. Zwischen dem 2. Oktober und dem 3. Dezember hatte das mobile LST-Team 95 Einsätze und hat 9 399 Personen getestet, darunter 7 355 Bewohner und 866 Mitarbeiter.
„Es fehlt an präzisen Statistiken“Der Santé-Direktor sagt, die Lage in den Heimen habe sich beruhigt. Das wäre eine gute Nachricht, aber sie lässt sich schwer überprüfen, weil es an detailliertem Zahlenmaterial fehlt, wie der Abgeordnete Marc Baum (Déi Lénk) bemängelt. Ab und zu erhielten die Mitglieder der parlamentarischen Santé-Kommission ein Update zu den aktiven Infektionen in den Heimen und zu der Anzahl an verstorbenen Personen, die zuletzt in einem Heim gewohnt haben, so Baum. „Ansonsten gibt es nur die allgemeinen Zahlen der Santé.“Vom Familienministerium komme
„gar nichts“, so der Abgeordnete, „jedenfalls nicht systematisch“.
Ab und zu ein Update
Das rezenteste Update stammt vom 17. November, als Familienministerin Cahen im Rahmen einer Aktualitätsstunde im Parlament erklärte, dass es aktuell – also am 17. November – in 28 Heimen 259 aktive Infektionen gebe, dass seit Beginn der Pandemie insgesamt 846 Bewohner und 696 Mitarbeiter positiv getestet worden seien und seit Beginn der Pandemie 128 Altenheimbewohner gestorben seien. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte der bis dahin 240 verstorbenen Personen in einem Heim gelebt haben. „Es gibt die detaillierten Zahlen also“, schlussfolgert Baum, „aber sie sind für uns nicht zugänglich“.
Auch der CSV-Abgeordnete Marc Spautz, der die Aktualitätsstunde beantragt hatte, fordert eine genauere Statistik über die Zahl der Menschen, die in einem Heim sterben beziehungsweise im Krankenhaus sterben und vorher in einer Struktur gelebt haben. „Interessant wäre auch zu wissen, wie viele ältere Personen an Covid-19 sterben, die nicht in einem Heim gelebt haben“, so Spautz. Das gelegentliche Update der Ministerin zur Infektionslage in den Struktu
Seit Mitte Oktober sterben in Luxemburg jeden Tag Menschen an oder mit Covid-19. Allein im November meldete die Santé 173 Todesfälle. Einen ersten traurigen Höhepunkt gab es im April mit 67 Covid-19-Toten. ren reicht dem CSV-Abgeordneten nicht, „weil es sich nur um eine Momentaufnahme handelt“. Die Zahlen zu den Heimen sind im Übrigen auch nicht im Wochenbericht der Santé enthalten. Um sich ein präzises Bild machen zu können, fordert Spautz einen regelmäßigen detaillierten Bericht über die Infektionslage in den Altenund Pflegeheimen.
Zu viel Verantwortung für die Heime Der Ruf nach klaren Richtlinien seitens des Familienministeriums für die Heime wird immer lauter und kommt aus allen Ecken – auch aus der Koalition. Obwohl die einzelnen Strukturen sehr unterschiedlich seien und man sie nicht miteinander vergleichen könne, sei es wichtig, einzelne Empfehlungen zu zentralisieren, forderte beispielsweise LSAP-Abgeordnete Simone Asselborn-Bintz in ihrer Rede im Parlament. Die Häuser müssten sich mit dem Ministerium zusammensetzen, um die für das Wohlbefinden ihrer Bewohner bestmöglichen Prozeduren auszuarbeiten, so Asselborn-Bintz.
Marc Baum findet, das Familienministerium hätte unbedingt Richtlinien definieren müssen. „Die Strukturen werden alleine gelassen und die ganze Verantwortung liegt bei den Heimbetreibern“, sagt Baum. Das sieht auch Marc Spautz so. Er beruft sich auf ein kritisches Gutachten der Menschenrechtskommission (CCDH), wonach viele Bewohner sich beschweren, dass sie auf Anordnung der Heimleitung eingesperrt werden. „Das geht nicht. Hier muss das Familienministerium mehr Verantwortung übernehmen“, meint Spautz.
CCDH bemängelt fehlende Strategie Auch der Vorsitzende der Menschenrechtskommission, Gilbert Pregno, sieht es als wichtig an, der
Frage, wie das Virus in die Heime gelangt und wie es sich weiterverbreitet, nachzugehen – eben um gezielt gegen die Virusverbreitung vorzugehen und gleichzeitig zu verhindern, dass man die Menschen erneut einsperren muss. Die psychischen Probleme, die das zur Folge hätte, seien nicht zu unterschätzen. „Wir hätten uns gewünscht, wenn die Heimleiter sich mit Experten aus dem Ethikbereich zusammengesetzt und eine gemeinsame Strategie für die Alten- und Pflegeheime ausgearbeitet hätten“, so Pregno. „Leider ist es nicht dazu gekommen.“Die Handhabung der Krise in Bezug auf ältere, kranke und behinderte Menschen, die in Strukturen leben, sei zu komplex, als dass man sie allein im Verantwortungsbereich der Heime lassen könne, so Pregno sinngemäß.
Corinne Cahen hatte die Menschenrechtskommission im Spätsommer schriftlich gefragt, ob sie bereit sei, eine Analyse über die Situation und das Krisenmanagement in den Heimen durchzuführen. Die Menschenrechtskommission war dazu bereit, „unter der Bedingung, die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen“, so Pregno. Vor zwei Wochen habe er einen Brief erhalten, in dem die Regierung schreibt, sie würde sich bedanken und käme gegebenenfalls auf die Kommission zurück. „Diese Analyse wäre wichtig“, sagt Pregno. Doch wie es scheint, liegt dieses Vorhaben jetzt auf Eis. Ministerin Cahen hatte auf Radio 100,7 deutlich gemacht, dass eine solche Analyse momentan nicht zu ihren Prioritäten gehöre.
Das Virus ist viel zu komplex, um von einzelnen Menschen vollständig durchdacht zu werden. Anja Leist, Altersforscherin