Die Reportage
Seiten, er weiß genau, was er sucht. „Da!“, ruft Müller und stößt mit dem Zeigefinger auf eine neongelb markierte Passage herab wie der Adler auf die Maus, „Da steht es!“Dabei klingt er, als sei eine „Fachaufsichtliche Weisung“ein Clou. Und zugleich irgendwie ein Skandal.
Es gibt Menschen, die es für eine Ungeheuerlichkeit halten, dass Müller für den Kreis, den er seit 26 Jahren als Landrat führt, am 24. November einen Lockdown verfügt hat. Hildburghausen im Thüringer Wald – bis dahin selbst in Deutschland allenfalls Fans des Komponisten Carl Maria von Weber bekannt oder des Erfinders von „Meyers Konversationslexikon“, Vorname Joseph, oder der „Dunkelgräfin“, die dann doch keine Tochter der geköpften Revolutionskönigin Marie Antoinette gewesen ist – Hildburghausen also hatte tags zuvor die Spitze der deutschen Corona-Rangliste gestürmt.
Deutschland-Rekord
Ein paar Tage später brach der Kreis den deutschen Rekord, der seitdem hält: 603 Infizierte pro 100 000 Einwohner in einer Woche. Müller indes hält es für eine Ungeheuerlichkeit, dass er mit dem Lockdown elf Tage länger warten musste als er wollte.
Nun aber, vier Tage vor Nikolaus, fühlt sich „Hibu“, wie sie die Kreisstadt hier nennen in ihrem ganz speziellen Deutsch, das die Bayern im Süden für Sächsisch halten, die Sachsen im Nordosten aber für Fränkisch, was es auch ist; Hibu also fühlt sich eisig an. Das liegt nur ein bisschen am ersten Schnee – und sehr viel mehr an einigen Reaktionen auf den Lockdown. Schulen und Kitas dicht, Ausgang nur für Arbeit, Arztbesuch, Einkaufen – und Maskenpflicht im Zentrum des 12 000-Einwohner-Städtchens: Das ist manchen zu viel. Am zweiten Lockdown-Abend war plötzlich der Marktplatz voll, drei-, vierhundert Menschen dicht an dicht, keine Masken, kein Abstand – unangemeldet obendrein. Die Demonstranten sangen „O wie ist das schön“, die Polizei mahnte und warnte und zückte dann Pfefferspray. Seitdem ist Winter in Hibu. Nicht nur im meteorologischen Sinn. Im Rathaus sorgt sich der Bürgermeister um den Ruf seiner
Außen postkartenschön, innen wie Science-Fiction – und nichts ist die Wahrheit: Der weihnachtliche Marktplatz von Hildburghausen (oben) ist kein Idyll, und die Herren in weißen Anzügen (unten links) sind nicht aus einem Film, sondern Helfer beim Massentest – und Gesundheitsministerin Heike Werner und Landrat Thomas Müller (unten von rechts) auf größerer Distanz als es scheint.
Stadt. Politisch ist Tilo Kummer als Linker dem christdemokratischen Landrat nicht immer grün. In Sachen Pandemie aber stehen sie Seit’ an Seit’. Vielleicht geht es Kummer ein bisschen mehr um Solidarität – und Müller ein bisschen mehr um Sicherheit und Struktur. Dass der Lockdown aber ein Muss ist und der Protest dagegen für die Stadt und den Kreis nicht weniger folgenschwer: Da sind sie einig.
Morddrohungen
Die erste Morddrohung kam mit der Demo. „Müller“, stand auf Facebook in schwer verunglückter Orthografie, „du Dummes Schwein. Nimm dir einen Strick und häng dich weg!“Und bald legte wer nach: „Ich glaub es ist besser wenn wir ihm dabei helfen.“Der Landrat wollte das nicht ernst nehmen. Die Polizei schon. Der „Schwein“-Schreiber wohnt in Müllers Dorf. Er hat seinen Hass gar nicht erst mit einem Pseudonym zu tarnen versucht. Die Polizei, seit der Demo mit mehr als einer Hundertschaft im Kreis unterwegs – 63 000 Einwohner verstreuen sich über knapp tausend Quadratkilometer –, fährt jetzt jede Nacht mehrfach an Müllers Wohnhaus vorbei. Ganz langsam. Ganz demonstrativ. Ihm ist das unangenehm. Seine Frau aber, Leiterin der Berufsschule, ist froh.
Die Fernsehteams aus Berlin, die Hildburghausen nach dem Rekord überrannt haben, sind längst wieder weg; die Schlagzeile der „Bild am Sonntag“vier Tage alt. „Vom Neonazi-Hotspot zum CoronaHotspot“stand da groß und fett; und selbstverständlich hatte die „BamS“den bekanntesten Neonazi des Landkreises nicht nur gefragt – sondern auch mit einem lobenden Kommentar zur Demo zitiert. „Nicht hilfreich“, sagt Bürgermeister Kummer. Und dass „jeder zweite Sender“versucht habe, „Hibu in die rechte Ecke zu stellen“. Er selbst aber sei doch der Gegenbeweis – als Linker und „im März auf Anhieb gewählt“.
„Das gibt einen Ruf“, heißt es trotzdem im Landratsamt, „den kriegt Hibu so schnell nicht wieder los.“Sie reißen sich hier auf, was nur irgendwie geht – lang bevor jeden Morgen um neun der Krisenstab tagt und länger als abends nach acht im ausgerechnet „Friedenspark“genannten kleinen Flanierfleckchen gegenüber der Lockdown-Protest leuchtet. Genau genommen flackert er gerade nur ein bisschen, vielleicht zwanzig unangemeldete Demonstranten im Pulk, die den Polizisten etwas von „Spaziergang“erzählen – und sich dann im Dunkel zerstreuen.
„Blödsinnig“hat Landrat Müller die Protestierer genannt; Diplomatie ist auch in entspannteren Zeiten allenfalls seine drittgrößte Stärke. Das bekommt am Mittag auch Thüringens Gesundheitsministerin zu spüren. Die linke Heike Werner rollt aus Erfurt an; sie will sehen, wie der freiwillige Massentest für Kitas und Schulen läuft, den das Land dem Landkreis aufgegeben hat. Müller schildert es als Gegengeschäft: Wolle er den Lockdown, müsse er den Test stemmen. „Es geht darum“, sagt Werner, „herauszufinden, ob Schulen Hotspots sind oder nicht.“Das könnte scheitern; bislang wollen nur 3 000 von 9 000 Gebetenen teilnehmen. „Ein Landkreis“, sagt Müller und würdigt Werner keines Blickes, „hat mehr als nur Schulen.“Zweihundert Meter entfernt sitzen zwei junge Kerle, die ein binnen Tagen von 15 auf 80 Mitarbeiter großgewuchtetes Gesundheitsamt vor der strukturellen Detonation bewahren. Die beiden, heißt es im Landratsamt, „muss man Tag und Nacht preisen“.
In Wirklichkeit kriegen auch Martin Büttner und Philipp Major jede Menge Druck ab. Weil sie, anders als Kollegen in anderen Kreisen, noch ans Telefon gehen. Sich Maulerei genauso anhören wie berechtigte Fragen, die es im Dutzend pro Stunde gibt.
Landrat Müller findet, in die zweite Kategorie gehöre auch, warum die rot-rot-grüne Landesregierung geschlafen habe. Sein Zeigefinger fährt Papierpassagen ab und piekst auf Bildschirmgrafiken. Alles zusammen läuft auch nach gründlicher Lektüre darauf hinaus, dass Müller am 12. November die Lockdown-Verfügung fertig hatte – „Vier Tage hintereinander über 200!“– und die zuständige Staatssekretärin zurückschrieb: „… vermag ich nicht zuzustimmen“. Der härteste Brief aber kommt an Tag acht des Lockdown. Eine Seite voller ekelerregender Morddrohungen. Vergasen, erschießen, aufhängen, zerteilen. Anonym. Den nimmt auch Müller ernst. Ganz kurz redet er vom Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Ein Schuss. Am Abend. In einem Dorf … Die Polizei achtet jetzt auch tagsüber auf ihn.
Aber da sind auch Konstantin und seine Geschwister und Eltern, die Müller geschrieben haben. Ein Brief zum Einrahmen. In Gold. Mit Worten wie „hervorragende Arbeit“und „vielen Dank“. Und einer Weihnachtsbastelei dazu.
Mittags um zwei an Tag neun liegt Hildburghausen unter 500. Tendenz sinkend. Deutschlandweit nur noch Rang 3. Abends stehen ein gutes halbes Dutzend Polizeimannschaftswagen rund um den Marktplatz. Und darauf der Christbaum, strahlend schön – und einsam. Ein Idyll. Und ein Trug.