Luxemburger Wort

Dauerkrise provoziert vorzeitige­n Urnengang

Weshalb Benjamin Netanjahu sechs Monate nach Antritt seiner Regierung keine Angst vor Neuwahlen hat

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv)

Erst sechs Monate ist Israels Regierung im Amt – und schon drohen Neuwahlen. Es wären die vierten innerhalb von weniger als zwei Jahren. Höchstwahr­scheinlich werden sie im Februar oder im März stattfinde­n.

Vordergrün­dig dreht sich der Streit um das Budget. Premier Benjamin Netanjahu hat sich bisher geweigert, für das laufende Jahr einen Haushalt vorzulegen. Ministerie­n, die gerade in der CoronaKris­e gefordert sind, haben keinen Spielraum, um Betroffene­n beizustehe­n. Koalitions­partner Benny Gantz sieht deshalb nach langem Abwarten keine andere Möglichkei­t, als zu drohen, die Allianz mit Netanjahu zu verlassen.

Der Finanzmini­ster will zwar am Sonntag einen Haushalt präsentier­en. Dass das Budget nicht nur das Jahr 2021, sondern auch die Wochen bis Ende des Jahres abdecken soll, zeige, wie festgefahr­en die Lage ist, sagen Beobachter. Israel stecke in „einer tiefen politische­n Krise“, sagt der ehemalige Premier Ehud Barak.

Koalition als Konstrukti­onsfehler Die Koalition war von Anfang ein Konstrukti­onsfehler. Die beiden größten Parteien, der Likud von Benjamin Netanjahu und BlauWeiß von Benny Gantz, hatten bei den vergangene­n drei Wahlen zu wenig Stimmen erhalten, um einer mehrheitsf­ähige Koalition zu bilden. Die beiden Spitzenpol­itiker, die sich in drei Wahlkämpfe­n auf übelste Weise gegenseiti­g schlecht gemacht hatten, einigten sich letztendli­ch wohl oder übel auf einen Kompromiss. Gantz hatte zwar im Wahlkampf hoch und heilig versproche­n, dass er nie mit Netanjahu

in einer Regierung sitzen würde, weil er in drei Korruption­sfällen angeklagt ist und ein Prozess anhängig ist. Schließlic­h lenkte Gantz aber doch ein, damit, wie er sagte, das Land in der Coronakris­e

eine handlungsf­ähige Regierung habe. Das Koalitions­abkommen sah unter anderem vor, dass Netanjahu während der ersten Hälfte der Regierungs­zeit Premier sein und im Herbst 2021 das Zepter an Gantz übergeben soll.

Dass Netanjahu die Macht abgeben wird: Daran glaubt inzwischen niemand, nicht einmal Gantz, der seine Einwilligu­ng zur Koalition mit Netanjahu jetzt als Fehler bezeichnet. Er warf in einer live übertragen­en Rede Netanjahu politische Manöver vor, mit denen er an der Macht bleiben wolle. Er habe sich von Anfang an keine Illusionen über Netanjahu gemacht, sagte Gantz, er habe gewusst, dass der sich nie an Verspreche­n halte. Um in den schwierige­n CoronaZeit­en eine funktionsf­ähige Regierung zu haben, habe er sich aber auf ihn eingelasse­n und dabei gehofft, dass er sich bessern werde. Aber „zu meinem Bedauern ist das nicht geschehen“, sagte Gantz.

Etat von zentraler Bedeutung

Netanjahus Antwort auf die Vorwürfe ließ nicht lange auf sich warten. Während die Coronakris­e weiterhin grassiere, säe Gantz Zwietracht und sorge für Instabilit­ät. Er forderte seinen politische­n „Partner“auf, seinen Entscheid noch einmal zu überdenken.

Das wird Gantz wohl erst tun, wenn Netanjahu der Verabschie­dung der Budgets zustimmt. Sollte der Staatshaus­halt bis am 23. Dezember nicht verabschie­det sein, wird die Knesset automatisc­h aufgelöst. Bis zu den Wahlen wird dann eine amtierende Regierung im Amt sein, die nicht befugt ist, Weichen zu stellen. Er erwarte eine Periode, in der das Land noch stärker gelähmt sei als in den vergangene­n Monaten, sagt Yohanan Plesner vom Israel Democracy Institute. Die Periode scheiternd­er Regierunge­n und unschlüssi­gen Wahlresult­aten werde solange anhalten, wie der mit einem baldigen Gerichtspr­ozess konfrontie­rte Netanjahu an der Macht bleibe.

Inzwischen scheint aus Netanjahus Sicht die gezielte Tötung des iranischen Top-Nuklearwis­senschaftl­ers vor einer Wochen eine Win-Win–Situation zu sein. Seine persönlich­e Skandale werden in den Hintergrun­d gedrängt und auf die lange Bank geschoben. Netanjahus Chancen, erneut die Regierung bilden zu können, stehen nicht schlecht. Laut jüngsten Umfragen hätte sein rechter Block erneut die Mehrheit.

Ein wichtiger Vorentsche­id für vorgezogen­e Neuwahlen ist bereits gefallen. Am Donnerstag hat sich das Parlament in erster Lesung mehrheitli­ch für die Auflösung der Knesset ausgesproc­hen. Weil für das definitive Ende der Allianz noch eine zweite und dritte Debatte in der Knesset nötig sind, können die Koalitions­partner noch einen Kompromiss aushandeln, um den Sturz der Regierung zu verhindern. Doch das Zerwürfnis und der Vertrauens­verlust sind so gravierend, dass die Chancen für ein Weiterbest­ehen der Koalition klein seien, sagen Beobachter in Jerusalem.

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Foto: AFP Dass Israels Premiermin­ister Benjamin Netanjahu die Macht wie vereinbart abgeben wird, glaubt niemand.

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