Schwarzer November für Neu Delhi
Nach dem Beginn der kalten Jahreszeit sind die Corona-Fälle in Indiens Hauptstadt in die Höhe geschossen
„Wir dachten, Covid sei vorbei, doch dieser Monat war schockierend“, erzählt Rajesh. Der 27-Jähige arbeitet in der Pathologie des staatlichen Lok Nayak Krankenhauses in Neu Delhi. „Es gab Tage, an denen habe ich zehn, zwölf Tote hierher gebracht,“sagt er. Rajesh hat keine Zeit für eine Pause bei seiner Arbeit am Nigambodh Ghat – Delhis größter und ältester Verbrennungsstätte am YamunaUfer. Jeder fünfte Tote hier ist ein Corona-Patient. Vor ein paar Tagen seien 118 Tote verbrannt worden, weiß Rajesh. Indiens Metropole verzeichnet inzwischen über eine halbe Million Corona-Ansteckungen. Die Zahl der Todesopfer erreichte im November mit 2 612 Fällen einen traurigen Rekord. Krankenhäuser haben keine freien Betten mehr, Krematorien wie am Nigambodh Ghat sind überlastet.
Delhis notorische schlechte Luftqualität im Winter verschärft die Lage: die indische Hauptstadt verzeichnete in dieser Woche Feinstaub-Werte von über 350 Mikrogramm. Auch in den kommenden Tagen soll der giftige WinterSmog anhalten.
Die Bauern begehren auf
Zwar sind die Corona-Neuansteckungen in dieser Woche leicht gesunken, aber gleichzeitig protestieren Tausende Bauern in und außerhalb der Stadt gegen das neue Landwirtschaftsreform-Gesetz der Regierung, das den Sektor für private Investoren öffnet. Experten fürchten einen SuperSpreader-Event, zumal die Bauern keine Anstalten machen, ihre Demonstrationen so schnell aufzugeben.
Gurmeet Singh aus Faridkot in der Punjab-Provinz harrt mit Hunderten Landwirten seit Tagen im Norden der Stadt aus – die wenigsten von ihnen mit Mund-Nasen-Schutz und sicherem Abstand zueinander. „Wir könnten Corona vielleicht überleben, aber wie werden wir dieses grausame Gesetz überleben, das uns unser Brot und unsere Butter nimmt“, klagte Singh. Seine Mitstreiter sehen das ähnlich. Die Regierung hätte diese Versammlung nie erlauben dürfen, findet Ärztepräsident Krishan Kumar Aggarwal. Die Protestkundgebungen der Bauern seien nicht nur eine Gefahr für die Hauptstadt, sondern für ganz Indien.
Neu Delhi mit seinen über 20 Millionen Einwohnern erlebt bereits die dritte Corona-Welle: nicht nur die schlechte Luft ist ein
Grund, warum das Virus sich hier so rasch verbreitet. Viele Stadtgebiete sind dicht besiedelt. In den Slums und Industriegebieten wohnen auch viele Wanderarbeiter, die auf engstem Raum zusammenleben.
Millionen Migranten hatten im März die Stadt verlassen, weil sie mit dem harten Lockdown der Regierung ihre Arbeit und oft sogar ihre Unterkunft verloren hatten. Die meisten machten sich auf, in ihre Dörfer zurückzukehren, doch weil es dort keine Arbeit gibt, sind fast alle inzwischen wieder nach
Neu Delhi und die anderen Großstädte zurückgekehrt.
Anders als die Finanzmetropole Mumbai, die schon früh wissenschaftliche Erhebungen in den Armenviertels gemacht und Unterstützung geleistet hat, ist in Delhi wenig bekannt darüber, wie und wo das Virus sich in der Stadt genau verbreitet. Schätzungen zufolge haben bis Ende September zwischen 40 und 60 Prozent der Bevölkerung von Neu Delhi eine Corona-Infektion durchgemacht. Doch wenn die Erfahrungen aus Mumbai ein Anhaltspunkt sind, so verbreitet sich das Virus sehr ungleich in der Stadt. Während in den Slums zwischen 50 und 80 Prozent der Bewohner Corona-Antikörper haben, weil sie bereits eine Infektion durchgemacht haben, so liegt der Prozentsatz in reicheren Vierteln bei nur ein paar Prozent. Dieser Teil der Bevölkerung sei weiterhin gefährdet, auch wenn die Gesamtzahl der Infektionen in der Stadt hoch sei, schreibt der Londoner Mathematiker Murad Banaji, der sich mit Modellberechnungen zur Krankheitsverbreitung beschäftigt. Wenn das Virus sich dort plötzlich verbreite, führe dies zu einer Beschleunigung der Epidemie, so Banaji.
Warten auf den Impfstoff
Die Hoffnung auf eine Impfung ist daher groß. Indien verzeichnet bislang insgesamt mehr als 9,5 Millionen Corona-Infektionen und fast 140 000 Todesfälle. Am Donnerstag meldete das Gesundheitsministerium 35 551 neue Ansteckungen. Indiens Gesundheitsminister Harsh Vardhan hat bereits verlauten lassen, er wolle im Sommert 2021 zwischen 250 und 300 Millionen Menschen geimpft haben. Dies ist immer noch vergleichsweise wenig für eine Bevölkerung von über 1,3 Milliarden Menschen. Im Moment vertritt Indiens
Regierung jedoch die Meinung, dass nicht ganz Indien immunisiert werden muss, um die Übertragung des Virus zu verhindern. „Wissenschaft ist die einzige Exit-Strategie bei Covid-19“, betonte Vardhan kürzlich in einem Interview.
Das Land ist weltweit der größte Impfstoffhersteller der Welt und hat sich 1,6 Milliarden Dosen Impfstoff gesichert. Laut einer Erhebung der Duke University setzt Indien hauptsächlich auf das Präparat der Firma Novavax mit einer Milliarde Dosen, gefolgt vom Vakzin der Universität Oxford und des Pharma-Konzerns Astrazeneca mit einer halben Milliarde Dosen. Beide Impfstoffe können in einem herkömmlichen Kühlschrank gelagert werden und eignen sich daher für Länder wie Indien, in denen Kühlketten und Lagerung bei konstanten Temperaturen eine Herausforderung darstellen.