„Kein Kamelott“
Versuchter Mord: Staatsanwaltschaft fordert 20 Jahre Gefängnis für 83-jährigen Mann
Diekirch. Man sieht Marinus P. die Wut, die ihn antreibt nicht an. Mit kurzen Schritten schlürft der 83Jährige zwischen den beiden Polizisten und in Handschellen durch den Gerichtsflur. Sein weißes schütteres Haar fällt auf. Dann die buschigen, dunklen Augenbrauen über seinen tief liegenden hellen Augen, die fast traurig über seine viel zu große Schutzmaske in den Gerichtssaal blicken.
Sichtlich erschöpft lässt sich er sich neben der Anklagebank in einen Stuhl sinken. Dieser steht weiter vorne als üblich, damit der alte Mann das Geschehen im Gerichtssaal besser verfolgen kann. Mehr als fünf Stunden lang sitzt er so still in vorderster Reihe. In seiner dunkelblau karierten Flanelljacke, seiner schwarzen Häftlingsjogginghose, seinen dicken grauen Wollsocken und seinen schwarzen Kunststoff-Clogs. Gelegentliches Kopfschütteln und Nicken zeigen, dass er genau versteht, was um ihn herum geschieht.
Vom „wëllen Heng“zum „Flëntenheng“
Und auch wenn er wie ein verlorener Zuschauer wirkt: Der alte Mann steht im Mittelpunkt des Geschehens und wie der vorsitzende Richter zu einem gewissen Zeitpunkt klarstellt, es geht um sehr viel. Denn seit dem 26. Oktober 2019 ist Marinus Hendrik P. in Noertringen, wo er zuletzt lebte, nicht mehr nur als „de wëllen Heng“bekannt. Seit diesem Tag sprechen die Menschen in dem 360-SeelenOrt vom „Flëntenheng“.
An diesem Samstagmorgen schießt der damals 82-Jährige seinem Vermieter mit einem großkalibrigen Revolver in die Brust. Dieser überlebt nur knapp. Die Kugel durchbohrt den Körper des 48-Jährigen zwischen Schulter und Brustkorb. Das Opfer verliert sehr viel Blut, seine Lunge kollabiert. Dass er überlebt, ist reine Glückssache.
„Kein Kamelott“, sagt Marinus P. später im Verhör über seinen Revolver. Der Vermieter habe ihn „roose gemaach“, erzählt er nun etwas mehr als ein Jahr später vor den Diekircher Richtern. Das sei eben die Konsequenz gewesen.
Und da ist sie plötzlich, die rasende Wut des alten Mannes. Aus dem sanften, tatterigen, geschundenen Greis wird schlagartig ein harter Kämpfer. Marinus P. fuchtelt energisch mit den Händen, seine Stimme wird laut, rau und scharf, als er den Grund für seine Wut erklären soll. „77 Jahre lang bin ich zur Sau gemacht worden, und dann kommt so ein armseliges Bürschchen und will mich fertigmachen“, schnaubt der 83-Jährige. Nein, nicht mit ihm. Nicht mehr. Heute, im Nachhinein, tue ihm aber leid, was er getan habe.
Bei Polizei und Untersuchungsrichter hatte das noch anders geklungen: Er habe aus der Hüfte schießen müssen, deshalb habe er nur versehentlich den Kopf verfehlt und die Schulter getroffen. Eine Kugel in den Kopf, das sei es, was sein Vermieter verdient habe. Und im Hinterzimmer habe er eine zweite Waffe versteckt, um sich anschließend selbst zu richten.
Inzwischen, vielleicht auch auf anwaltlichen Rat, ist er davon abgerückt: „Ich wollte ihm nur Angst machen“, versichtert er dem vorsitzenden Richter. Er schieße doch nicht auf Menschen. „So dreckig bin ich dann doch nicht“, fährt er fort. Der Andere sei der eigentliche Übeltäter: „Nervlich auf den Kopf gestellt hat er mich“, keift Marinus P. mit seinem ganz eigenen niederländischen Akzent. „Er wollte mich da raushaben.“Und darum geht es eigentlich bei dem Streit, der am 26. Oktober 2019 blutig endet: den Tropfen zu viel.
Zu Marinus P., Jahrgang 1933, war das Leben sicher nicht gerecht. Wie er dem psychiatrischen Gutachter erklärt, wächst er ohne Eltern auf und beginnt als 14-Jähriger als Knecht bei Landwirten zu arbeiten, kommt mit 20 nach Luxemburg und wird nie besonders fürsorglich aufgenommen. Schon in höherem Alter landet er schließlich bei einem Holzunternehmer in Noertringen. Es ist scheinbar der erste Ort, wo er mit Freude arbeitet. Und Jahrzehnte später erneut Glück findet.
Denn, 2015 als er als 78-Jährige riskiert, auf der Straße zu landen, lässt ihn der Unternehmer für 600
Euro Miete in einem leerstehenden Haus auf dem Firmengelände leben.
Doch dem Sohn des Holzhändlers, dem späteren Opfer, gefällt das gar nicht. Er mag den „Hondsfriemen“nicht in dem Haus. Und irgendwann bringt er im Obergeschoss rumänische Gastarbeiter unter. Marinus P. hat nun nur noch das Erdgeschoss, kein Schlafzimmer mehr und zum Duschen muss er in den Keller. Die Miete bleibt gleich. Der heute 49-Jährige, der im Prozess keine besonders sympathische Figur abgab, verschafft sich zudem immer wieder Zugang zu den privaten Räumen von Marinus P. und provoziert ihn. „Sie wollten den Mann herumstoßen, so wie es ihnen gefiel“, stellt auch der vorsitzende Richter fest.
Kaltblütiger Mordversuch kommt mit Fotobeweis
Marinus P. will sich das nicht weiter bieten lassen. Wie er zunächst gesteht, dann aber wieder bestreitet, fasst er einen ungeheuerlichen Plan: Er legt sich monatelang eine Waffe zurecht und wartet auf den Tag, an dem das spätere Opfer wieder uneingeladen in das Haus kommt. Das geschieht am 26. Oktober kurz nach 7 Uhr morgens. Der Vermieter will gemeinsam mit dem Betriebsschreiner ein Schloss austauschen, damit man von Außen auch Zutritt bekommt, wenn Innen ein Schlüssel steckt. Es kommt zum Streit.
Beide Männer packen sich am Kragen. Marinus P. zieht im Gerangel seinen Revolver, den er hinter dem Rücken im Gürtel trägt. Für den Vermieter scheinbar fast ein Grund zur Freude: „Nun werden wir ihn los“, sagt er dem Schreiner zufolge, zückt sein Handy und macht ein Foto. Das Bild wird im Prozess gezeigt. Zu sehen ist Marinus P. im Streifenpullover und mit groß aufgerissenen Augen. Vor der Brust umklammert er mit beiden Händen einen großen schwarzen Revolver. Dann knallt es.