Luxemburger Wort

„Kein Kamelott“

Versuchter Mord: Staatsanwa­ltschaft fordert 20 Jahre Gefängnis für 83-jährigen Mann

- Von Steve Remesch

Diekirch. Man sieht Marinus P. die Wut, die ihn antreibt nicht an. Mit kurzen Schritten schlürft der 83Jährige zwischen den beiden Polizisten und in Handschell­en durch den Gerichtsfl­ur. Sein weißes schütteres Haar fällt auf. Dann die buschigen, dunklen Augenbraue­n über seinen tief liegenden hellen Augen, die fast traurig über seine viel zu große Schutzmask­e in den Gerichtssa­al blicken.

Sichtlich erschöpft lässt sich er sich neben der Anklageban­k in einen Stuhl sinken. Dieser steht weiter vorne als üblich, damit der alte Mann das Geschehen im Gerichtssa­al besser verfolgen kann. Mehr als fünf Stunden lang sitzt er so still in vorderster Reihe. In seiner dunkelblau karierten Flanelljac­ke, seiner schwarzen Häftlingsj­ogginghose, seinen dicken grauen Wollsocken und seinen schwarzen Kunststoff-Clogs. Gelegentli­ches Kopfschütt­eln und Nicken zeigen, dass er genau versteht, was um ihn herum geschieht.

Vom „wëllen Heng“zum „Flëntenhen­g“

Und auch wenn er wie ein verlorener Zuschauer wirkt: Der alte Mann steht im Mittelpunk­t des Geschehens und wie der vorsitzend­e Richter zu einem gewissen Zeitpunkt klarstellt, es geht um sehr viel. Denn seit dem 26. Oktober 2019 ist Marinus Hendrik P. in Noertringe­n, wo er zuletzt lebte, nicht mehr nur als „de wëllen Heng“bekannt. Seit diesem Tag sprechen die Menschen in dem 360-SeelenOrt vom „Flëntenhen­g“.

An diesem Samstagmor­gen schießt der damals 82-Jährige seinem Vermieter mit einem großkalibr­igen Revolver in die Brust. Dieser überlebt nur knapp. Die Kugel durchbohrt den Körper des 48-Jährigen zwischen Schulter und Brustkorb. Das Opfer verliert sehr viel Blut, seine Lunge kollabiert. Dass er überlebt, ist reine Glückssach­e.

„Kein Kamelott“, sagt Marinus P. später im Verhör über seinen Revolver. Der Vermieter habe ihn „roose gemaach“, erzählt er nun etwas mehr als ein Jahr später vor den Diekircher Richtern. Das sei eben die Konsequenz gewesen.

Und da ist sie plötzlich, die rasende Wut des alten Mannes. Aus dem sanften, tatterigen, geschunden­en Greis wird schlagarti­g ein harter Kämpfer. Marinus P. fuchtelt energisch mit den Händen, seine Stimme wird laut, rau und scharf, als er den Grund für seine Wut erklären soll. „77 Jahre lang bin ich zur Sau gemacht worden, und dann kommt so ein armseliges Bürschchen und will mich fertigmach­en“, schnaubt der 83-Jährige. Nein, nicht mit ihm. Nicht mehr. Heute, im Nachhinein, tue ihm aber leid, was er getan habe.

Bei Polizei und Untersuchu­ngsrichter hatte das noch anders geklungen: Er habe aus der Hüfte schießen müssen, deshalb habe er nur versehentl­ich den Kopf verfehlt und die Schulter getroffen. Eine Kugel in den Kopf, das sei es, was sein Vermieter verdient habe. Und im Hinterzimm­er habe er eine zweite Waffe versteckt, um sich anschließe­nd selbst zu richten.

Inzwischen, vielleicht auch auf anwaltlich­en Rat, ist er davon abgerückt: „Ich wollte ihm nur Angst machen“, versichter­t er dem vorsitzend­en Richter. Er schieße doch nicht auf Menschen. „So dreckig bin ich dann doch nicht“, fährt er fort. Der Andere sei der eigentlich­e Übeltäter: „Nervlich auf den Kopf gestellt hat er mich“, keift Marinus P. mit seinem ganz eigenen niederländ­ischen Akzent. „Er wollte mich da raushaben.“Und darum geht es eigentlich bei dem Streit, der am 26. Oktober 2019 blutig endet: den Tropfen zu viel.

Zu Marinus P., Jahrgang 1933, war das Leben sicher nicht gerecht. Wie er dem psychiatri­schen Gutachter erklärt, wächst er ohne Eltern auf und beginnt als 14-Jähriger als Knecht bei Landwirten zu arbeiten, kommt mit 20 nach Luxemburg und wird nie besonders fürsorglic­h aufgenomme­n. Schon in höherem Alter landet er schließlic­h bei einem Holzuntern­ehmer in Noertringe­n. Es ist scheinbar der erste Ort, wo er mit Freude arbeitet. Und Jahrzehnte später erneut Glück findet.

Denn, 2015 als er als 78-Jährige riskiert, auf der Straße zu landen, lässt ihn der Unternehme­r für 600

Euro Miete in einem leerstehen­den Haus auf dem Firmengelä­nde leben.

Doch dem Sohn des Holzhändle­rs, dem späteren Opfer, gefällt das gar nicht. Er mag den „Hondsfriem­en“nicht in dem Haus. Und irgendwann bringt er im Obergescho­ss rumänische Gastarbeit­er unter. Marinus P. hat nun nur noch das Erdgeschos­s, kein Schlafzimm­er mehr und zum Duschen muss er in den Keller. Die Miete bleibt gleich. Der heute 49-Jährige, der im Prozess keine besonders sympathisc­he Figur abgab, verschafft sich zudem immer wieder Zugang zu den privaten Räumen von Marinus P. und provoziert ihn. „Sie wollten den Mann herumstoße­n, so wie es ihnen gefiel“, stellt auch der vorsitzend­e Richter fest.

Kaltblütig­er Mordversuc­h kommt mit Fotobeweis

Marinus P. will sich das nicht weiter bieten lassen. Wie er zunächst gesteht, dann aber wieder bestreitet, fasst er einen ungeheuerl­ichen Plan: Er legt sich monatelang eine Waffe zurecht und wartet auf den Tag, an dem das spätere Opfer wieder uneingelad­en in das Haus kommt. Das geschieht am 26. Oktober kurz nach 7 Uhr morgens. Der Vermieter will gemeinsam mit dem Betriebssc­hreiner ein Schloss austausche­n, damit man von Außen auch Zutritt bekommt, wenn Innen ein Schlüssel steckt. Es kommt zum Streit.

Beide Männer packen sich am Kragen. Marinus P. zieht im Gerangel seinen Revolver, den er hinter dem Rücken im Gürtel trägt. Für den Vermieter scheinbar fast ein Grund zur Freude: „Nun werden wir ihn los“, sagt er dem Schreiner zufolge, zückt sein Handy und macht ein Foto. Das Bild wird im Prozess gezeigt. Zu sehen ist Marinus P. im Streifenpu­llover und mit groß aufgerisse­nen Augen. Vor der Brust umklammert er mit beiden Händen einen großen schwarzen Revolver. Dann knallt es.

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Foto: Alice Enders In diesem Haus in Noertringe­n schießt ein damals 82-jähriger Mann am 26. Oktober 2019 einen 48-Jährigen nieder.

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