Luxemburger Wort

Mit den Ausreden fängt es an

Eine Betroffene erzählt von ihren Erfahrunge­n mit häuslicher Gewalt

- Von Sarah Cames

Luxemburg. Gewalt gegen Frauen ist allgegenwä­rtig – und bleibt doch oftmals unsichtbar. Häufig findet sie – von Außenstehe­nden weitgehend unbemerkt – in den eigenen vier Wänden statt. Betroffene sprechen meist erst spät über die Gewalt, die ihnen widerfahre­n ist. Angst, Scham, Isolation oder finanziell­e und emotionale Abhängigke­iten erschweren ihnen den Ausbruch aus der Gewaltspir­ale.

Die „Orange Week“, die vom Internatio­nalen Tag gegen Gewalt an Frauen vom 25. November bis zum Tag der Menschenre­chte am 10. Dezember dauert, hat das Ziel, ein Scheinwerf­erlicht auf sämtliche Formen der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu richten. In diesem Jahr findet die „Orange Week“, organisier­t vom nationalen Frauenrat und von Zonta Internatio­nal, coronabedi­ngt verstärkt in den sozialen Medien statt.

Unter dem Motto „Lët’s say no to violence“sind Frauen und Männer dazu aufgerufen, sich orange zu kleiden und sich mit der Kampagnenm­aske abzulichte­n. „Wir hatten Angst, unsere Botschaft würde in diesem Jahr etwas untergehen. Aber das war nicht der Fall“, berichtet Anik Raskin, Direktions­beauftragt­e des nationalen Frauenrats (CNFL). Rund 700 Masken und 1200 Kerzen waren schnell ausverkauf­t, sodass Nachschub geordert werden musste – und die Nachfrage sei immer noch nicht abgebroche­n.

Das erste Mal

Im Rahmen der Sensibilis­ierungswoc­he teilten in den sozialen Medien einige Frauen ihre eigenen Erfahrunge­n mit Gewalt. Zu ihnen gehört auch die 29-jährige Anne Kirsch-Wagner. Für sie war es das erste Mal, dass sie über die Gewalt, die sie in einer vergangene­n Beziehung erlebt hatte, öffentlich sprach. Die Reaktionen auf ihren

Beitrag zeigten ihr, wie allgegenwä­rtig das Problem ist – in den Folgetagen meldeten sich mehrere Frauen aus ihrem Freundeskr­eis bei ihr, die Ähnliches erlebt hatten.

Anne Kirsch-Wagner war gerade mit dem Studium fertig, als sie ihren Ex-Partner über gemeinsame Freunde kennenlern­te. Zunächst verband die beiden eine enge Freundscha­ft – eine Beziehung wollte die heute 29-Jährige nicht eingehen. „Er war eigentlich nicht so wirklich mein Typ“, so KirschWagn­er im „Wort“-Interview. Doch irgendwann vertiefte sich die Beziehung. Sie verbrachte­n mehr Zeit miteinande­r, begannen, über eine gemeinsame Zukunft zu reden. „Am Anfang war es fast zu perfekt“, erinnert sie sich. Anzeichen darauf, was noch kommen sollte, habe es zu dem Zeitpunkt noch nicht gegeben.

Doch bereits nach einigen Monaten änderte sich die Beziehungs­dynamik: Er begann, sich zurückzuzi­ehen, was bei Kirsch-Wagner wiederum Verlustäng­ste auslöste. „Ich habe angefangen, meine Interessen hinten anzustelle­n. Ich habe meine ganze Energie darauf verwendet, dass er bleibt.“

Er blieb – doch die Streitigke­iten häuften sich. Er kritisiert­e sie, warf ihr vor, die Beziehung zu vernachläs­sigen und nicht genügend auf ihr Äußeres zu achten. Die ständigen verbalen Angriffe haben damals stark an ihrem Selbstbewu­sstsein genagt, so Kirsch-Wagner. Nach rund einem Jahr Beziehung wirkte ihr Partner zunehmend in sich gekehrt, verlor die

Lust daran, sich mit Freunden zu treffen. „In dem Moment setzte bei mir das Helfersynd­rom ein“, erklärt die 29-Jährige, die eine unbehandel­te Depression vermutete. Sie machte ihn zu ihrer Priorität und vernachläs­sigte dadurch sowohl sich, als auch den Kontakt zu ihren Freunden.

„Wir waren rund anderthalb Jahre zusammen, als er mich zum ersten Mal an den Armen packte.“Kirsch-Wagner gab sich damals selbst die Schuld daran, dass der Streit an diesem Abend eskaliert war. „Ich dachte mir: 'Ich hätte das nicht sagen sollen, ich habe ihn dazu gebracht, das zu tun. Es geht ihm schon nicht gut, und ich verschlimm­ere es noch.'“

Bei einem „einmaligen Ausrutsche­r“sollte es nicht bleiben, so Kirsch-Wagner. Für die Spuren der Gewalt fand sie schnell Ausreden – sie habe sich beim Basketball verletzt, und überhaupt kriege sie schnell blaue Flecken. „Man lernt in so einer Beziehung, spontan zu lügen. Man belügt sich selbst, aber auch andere. In dem Moment, in dem man das Verhalten seines Partners so zu verstecken versucht, ist es eigentlich schon zu spät.“

Es war der Beginn eines Teufelskre­ises: Die Angriffe kamen immer häufiger vor, wurden immer brutaler, erinnert sich die 29-Jährige. Meist habe sie einfach nur versucht, die Tortur durchzuste­hen. An anderen Tagen habe sie mit Worten zurückgesc­hossen.

Ein Abend sollte Kirsch-Wagner besonders in Erinnerung bleiben. Zu diesem Zeitpunkt endeten praktisch bereits sämtliche Streitigke­iten in Gewalt – und doch war dieser Abend anders, so die 29-Jährige.

Man lernt in so einer Beziehung, spontan zu lügen. Anne Kirsch-Wagner

Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wirklich kannte. Anne Kirsch-Wagner

„Es war ein Kampf. Er würgte mich, ich versuchte mich mit meiner ganzen Kraft zu wehren, um ihm zu entkommen.“Ihre Mutter hatte sie bereits zuvor gebeten, sie abzuholen. Kirsch-Wagner war außer Atem, als sie zu ihrer Mutter ins Auto stieg – dennoch erzählte sie ihr nicht, was eben passiert war. Später fuhr sie mit einer Freundin ins Krankenhau­s. Das Ergebnis: Eine Gehirnersc­hütterung, ein gequetscht­er Nerv, ein verstaucht­er Daumen, blaue Flecken sowie Schrammen an Gesicht, Hals und Oberarmen.

Der Ärztin erzählte sie schließlic­h die Wahrheit. Trotz der

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Foto: Anne Kirsch-Wagner Anne Kirsch-Wagner dokumentie­rte ihre Verletzung­en minutiös. Die Fotos wurden später vor Gericht verwendet.

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