Ein Blick auf die Zahlen
Schwere des Vorfalls hatte Kirsch-Wagner zunächst Bedenken, Anzeige zu erstatten. Doch sie dokumentierte ihre Verletzungen, ging schließlich damit zur Polizei – ein erleichterndes Gefühl, erinnert sie sich. Sie ging auf Distanz zu ihrem Ex-Partner.
Doch die Trennung hielt nicht lange. Wenige Monate nach dem Vorfall versuchte sie, die Anzeige wieder zurückzuziehen, doch die Angelegenheit war bereits an das Gericht weitergeleitet worden. „Glücklicherweise ist es in Luxemburg so, dass Angelegenheiten, die das Gericht als schwerwiegend genug einschätzt, verhandelt werden müssen – selbst wenn das Opfer seine Meinung geändert hat.“Vor Gericht versuchte sie, ihre Verletzungen herunterzuspielen. Sie verzichtete auf Schmerzensgeld, doch auf Anweisung des Gerichts musste sich ihr Ex-Partner einer Therapie unterziehen.
Die neutrale Einschätzung der Juristen, der Blick von außen auf die Geschehnisse, halfen ihr auf ihrem Weg in die Emanzipation. Sie wurde eigenständiger, traf sich mit ihrem Ex-Partner nur noch auf neutralem Boden. „Irgendwann merkte ich, dass ich ihn nicht mehr vermisse. Ich hatte mit dem Kapitel abgeschlossen.“
„Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wirklich kannte“, so KirschWagner heute. „Und auch ich war in dieser Beziehung nicht wirklich ich.“Frauen, die sich in ihrer Geschichte wiedererkennen, rät sie vor allem eins: darüber zu reden. „Man versucht ständig, sich die Situation schönzureden. Doch dazwischen kommen auch immer wieder Momente der Klarheit, in denen einem bewusst wird, dass das nicht normal ist. An diesen Momenten muss man festhalten.“Familie und Freunde können bei dem Emanzipationsprozess enorm helfen. „Manchmal braucht es jemanden von außen, der einem die Augen öffnet.“
Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter. Die häusliche Gewalt ist nur ein Teilaspekt des Problems. Gewaltdelikte gegen Frauen im Allgemeinen zu quantifizieren, sei hierzulande allerdings nur bedingt möglich, erklärt Anik Raskin vom nationalen Frauenrat. Denn es gibt keine zentralisierte Datenbank, die Vorfälle sämtlicher Art – also auch zum Beispiel Vergewaltigungen oder Gewalt durch ExPartner – detailliert erfasst. Dort sieht Raskin dringenden Handlungsbedarf. Erst wenn man zuverlässige Statistiken habe, könne die Politik das Problem gezielt angehen.
Ein großes Problem sieht Raskin auch in der Wohnraumknappheit in Luxemburg. Opfern fiele es oftmals schwer, sich von ihren gewalttätigen Partnern räumlich zu trennen, da sie keine bezahlbare Wohnungen finden. Notunterkünfte können hier Abhilfe schaffen – sie bleiben aber ein Provisorium, so Raskin.
Welche Auswirkungen die Pandemie auf die Statistiken des laufenden Jahres haben wird, ist noch nicht gänzlich absehbar. Ein signifikanter Anstieg der häuslichen Gewalt ist in Luxemburg seit Beginn der CoronaKrise bisher anscheinend ausgeblieben – was aber auch daran liegen könnte, dass Opfer weniger Möglichkeiten hatten, sich Hilfe zu suchen.
„Wenn man sich mit der Person, die einen attackiert, gemeinsam in der häuslichen Isolation befindet, ist es praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, zum Hörer zu greifen und sich Hilfe zu suchen.“Nach dem ersten Lockdown hätten Notunterkünfte in Luxemburg im Vergleich zum Vorjahr daher einen erheblichen Anstieg an Anrufen verzeichnet, so Raskin. Hinzu kam, dass die Fälle häufig gravierender waren. Um Opfern zusätzliche Anlaufstellen zu bieten, wurden gleich zu Beginn des ersten Lockdowns die Webseite violence.lu sowie eine nationale Helpline (Tel. 20 60 10 60) eingerichtet.
Bereits im Jahr 2019 war ein merklicher Anstieg der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt zu erkennen. Aus dem Jahresbericht des Ministeriums für Gleichstellung, der im Mai vorgestellt wurde, geht hervor, dass die Zahl der Opfer im Vergleich zum Vorjahr um fast 23 Prozent anstieg. Gab es im Jahr 2018 noch 1 089 Opfer, waren es im Folgejahr bereits 1 337 – 63 Prozent davon Frauen. Auch die Zahl der Wegweisungen stieg in diesem Zeitraum, von 231 im Jahr 2018 auf 265 im Jahr 2019.