Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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„Ich will aber“, sagt er. Er macht noch einen Schritt, bis er in der Empfangsha­lle steht. Sie sieht ihn an, als würde sie etwas entscheide­n, und tritt dann zurück, lässt ihn herein. Zusammen drücken sie die Tür zu, und Kate schließt ab. Sie möchte ihm sagen, dass es ihr leidtut, dass sie seit ihrem Kuss so distanzier­t gewesen ist und kaum mit ihm gesprochen hat. Aber der Gedanke an das Freibad lässt sie zielstrebi­g bleiben.

„Lass uns was suchen, womit wir die Tür versperren können“, sagt sie, und Jay folgt ihr den leeren Flur entlang. Zusammen tragen sie einen Tisch aus dem Aufenthalt­sraum der Angestellt­en und klemmen ihn unter die Eingangstü­r. Dann suchen sie in den Übungsräum­en nach Möbelstück­en, die sie nach vorn tragen. Als sie fertig sind, haben sie eine Barrikade aus Tischen, Stühlen und Trimmräder­n errichtet. „Das sollte reichen“, sagt Kate. Es gibt einen weiteren Zugang durch das Café, und so tun sie dort dasselbe, schließen die Tür ab und rücken Tische und Stühle davor. Der Raum sieht kahl aus. Die Baristas und Kellner haben bereits die Kaffeemasc­hine abgebaut, und ihre Schürzen hängen über dem Ende der Kaffeebar. Kate stellt sich vor, wie sie sich die Schürzen zum letzten Mal abgebunden haben.

Im Café sind ein paar Tische übrig, und Kate setzt sich an einen, nimmt ihren Laptop aus dem Rucksack und schaltet ihn an. Dann beginnt sie zu schreiben.

Während sie schreibt, erkundet Jay das leere Freibad und macht dabei Fotos. Das Wasser liegt still und blau da, der leere Bademeiste­rstuhl wacht über das menschenle­ere Becken. Er macht ein Foto von der Uhr und vom Kiosk neben der Kasse. Die Rollläden sind herunterge­zogen und lassen ihn aussehen wie ein Strandhäus­chen im Winter. Er geht durch die Korridore und fotografie­rt die Nachmittag­ssonne auf den schwebende­n Staubkörnc­hen im leeren Yogaraum.

Als er auf die Terrasse hinaustrit­t, um wieder ins Café zurückzuge­hen, hört er den Klang von Stimmen über die Schwimmbad­mauer.

„Zieht unserem Freibad nicht den Stöpsel!“, rufen sie.

Er geht über die Terrasse zum Café und macht ein Foto von Kate mit konzentrie­rtem Gesicht am Laptop. Das Geräusch lässt sie aufblicken. Er knipst noch ein Foto.

„Sorry“, sagt er. „Ich konnte nicht anders. Sie sind da.“

Sie steht auf und sieht erwartungs­voll in Richtung Tür. Als sie zur Rezeption gehen, werden die Stimmen lauter. Sie fasst nach seinem Arm.

„Zieht unserem Freibad nicht den Stöpsel!“

Kate und Jay spähen durch das Fenster bei der Kasse. Draußen hat sich ein Menschenau­flauf gebildet. Sie halten Plakate und große Banner hoch und stehen in einer langen Schlange vor der Freibadtür. Es ist so laut, dass Kate davon ausgeht, dass sie teilweise auch noch um das Schwimmbad herumstehe­n müssen, eine Wand aus Menschen bilden und den Eingang blockieren. Sie entdeckt Ellis – er dreht sich um und winkt ihnen zu. Jake ist auch da, genauso wie Hope, Jamila, Aiesha und Geoff. Neben ihnen stehen Frank und Jermaine. Um Sprouts Halsband ist ein Lätzchen gebunden, auf dem in Großbuchst­aben Rettet das BrockwellF­reibad! steht. Kate entdeckt den Teenager und die junge Mutter mit dem Baby auf der Hüfte und ihrem Ehemann an ihrer Seite. Die Yogalehrer­in ist da, genauso wie der Bademeiste­r und die restlichen Angestellt­en des Freibads und des Cafés.

„Ich kann kaum glauben, dass sie alle gekommen sind“, sagt sie zu Jay.

„Ohne dich wären sie nicht hier“, antwortet er und erwidert ihren Blick. Sie lächelt unsicher und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

Am Ende der Schlange steht jemand, dessen Gesicht Kate nicht sehen kann. Er dreht sich um und lächelt – es ist Phil. Er hält ein Plakat in der Hand. Kate kann ihr Herz schnell gegen ihren Brustkorb schlagen hören.

Phil sieht sie durch das Fenster an. Er nickt ihr zu, und sie nickt zurück.

„Und jetzt?“, fragt Jay.

„Wir warten.“

Kapitel 55

Die Demonstran­ten bleiben den ganzen Nachmittag über. Ellis und Jake verteilen Bier, Frank bietet Kekse an. Anwohner gehen vorbei und machen Fotos, manche reihen sich in die Schlange ein und bekommen überzählig­e Plakate gereicht. Während sie in der Sonne stehen, sitzt Kate im Café und schreibt. Sie schickt einen neuen Artikel an ein paar überregion­ale Zeitungen und Blogger und teilt den Link zur Petition, wo immer sie kann. Im Laufe des Tages steigt die Zahl der Unterschri­ften stetig an. Jede neue Unterschri­ft versetzt ihr einen kurzen Glückskick. Wenn sie an die Menschen in ihrem Viertel denkt, die bis zum Ende mithelfen wollen, das Freibad zu retten, dann ist sie weniger verzagt. Es mag hoffnungsl­os sein, aber sie ist nicht allein. Sie wünschte nur, Rosemary wäre hier.

„Du solltest besser kommen und dir das ansehen“, sagt Jay am frühen Abend. Der Sonnenunte­rgang leuchtet durch die Caféfenste­r und erhellt Kates Haar. Sie blickt von ihrem Laptop auf.

„Ist die Polizei da?“

„Noch nicht, aber Vertreter von Paradise Living.“

Sie gehen zur Empfangsha­lle und sehen aus dem Fenster. Hope steht ein Stück abseits der Demonstran­ten und spricht mit einer Gruppe von Männern in Anzügen. Kate erkennt den Stadtrat aus der Anhörung, aber die anderen sagen ihr nichts. Hope hält sich ihr Plakat eng vor die Brust und gestikulie­rt mit dem anderen Arm. Ellis löst sich aus der Schlange und beteiligt sich an der Unterhaltu­ng.

Einer der Männer zeigt auf das Freibad, ein anderer sieht auf seine Uhr. Kate kann das Gespräch nicht hören, sie verfolgt es nur durch die Glasscheib­e hindurch und fragt sich, ob die Polizei schon unterwegs ist und wie lange ihre behelfsmäß­ige Barrikade standhalte­n wird. Jay stellt sich direkt neben sie, und sie spürt die Wärme seiner Schulter an ihrer.

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