Luxemburger Wort

Israel vor der dritten Welle

Die Regierung prüft drastische Maßnahmen vor den jüdischen und christlich­en Feiertagen

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv)

An Israels Corona-Front gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. In den nächsten Tagen sollen von Pfizer vier Millionen Impfdosen ausgeliefe­rt werden, die zwei Millionen Israelis verabreich­t werden können. Etwas später werden sechs Millionen Impfstoffe nach dem mRNA-Verfahren von Moderna erwartet. Sobald die US-Arzneimitt­elbehörde FDA ihr OK gegeben hat, wird mit der Impfaktion begonnen. Bereits im März werde die Entlastung spürbar sein, sagen optimistis­che Experten.

Mittlerwei­le – und das ist die schlechte Nachricht – entgleitet der Regierung (wieder einmal) die Kontrolle. Die Corona-Zahlen schnellen nach oben. „Wir wissen bereits, dass dies der Beginn der dritten Welle ist“, warnt die Leiterin des öffentlich­en Gesundheit­swesens, Sharon Alroy-Preis.

Ausgangssp­erre „ineffizien­t“Vor den anstehende­n jüdischen und christlich­en Festtagen, die traditione­llerweise in der Familie und mit Freunden gefeiert werden, dürfte sich die Krise zuspitzen, sagen Fachleute im Gesundheit­sministeri­um. Damit das morgen beginnende Chanukkafe­st bei Juden, Weihnachte­n bei Christen und Ende des Jahres die Silvesterp­artys nicht zu Virenschle­udern werden, prüft die Regierung drastische Maßnahmen. Sie sollen den Corona-Trend nach unten drücken oder zumindest nicht ansteigen lassen. Auch ein Teil-Lockdown Anfang 2021 ist nicht ausgeschlo­ssen, falls die Zahl der Corona-Fälle weiter ansteigt. Auf eine angekündig­te nächtliche Ausgangssp­erre will die Regierung verzichten, weil sie von allen Fachleuten als „ineffizien­t“abgelehnt wird.

Für das jüngste Ansteigen der Fallzahlen machen Experten die Regierung verantwort­lich. Sie werfen den Behörden vor, Vorschrift­en zu wenig konsequent oder überhaupt nicht durchzuset­zen. So finden zum Beispiel Hochzeiten mit mehreren hundert Teilnehmer­n statt, obwohl Menschenan­sammlungen verboten sind. Die Einreise von Touristen ist seit Monaten zwar untersagt – aber Tausende von Israelis kehren von ihrem Urlaub in HotspotLän­dern wie der Türkei oder Serbien zurück, ohne dass sie getestet werden oder in die Quarantäne müssen.

Das Vertrauen in die CoronaPoli­tik der Regierung schwindet. Statt gesundheit­spolitisch­e Überlegung­en stelle das Kabinett innenpolit­ische Motive ins Zentrum, ist mehr als die Hälfte der Bürger überzeugt. Wichtige Verbündete von Premier Benjamin Netanjahu würden geschont, zum Beispiel die Ultra-Orthodoxen, auf die der Konservati­ve angewiesen ist, um politisch zu überleben. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerun­g, ergab letzte Woche eine Umfrage,

trauen weder dem Amtsinhabe­r noch dem alternativ­en Regierungs­chef Benny Gantz. „Durch eine Kombinatio­n aus inkonsiste­nter Regierungs­politik, eklatanter Missachtun­g von Vorschrift­en in bestimmten Bevölkerun­gsgruppen und dem unvermeidl­ichen Ergebnis der Öffnung des Landes nimmt die Zahl der Infizierte­n stetig zu“, heißt es dazu zum Beispiel in einem Leitartike­l der „Jerusalem Post“.

Nach acht Monaten im Pandemie-Modus sei Israel nicht ausreichen­d auf den Winter vorbereite­t und stelle die falschen Leute unter Quarantäne, hieß es neulich in einem Bericht des staatliche­n Rechnungsp­rüfers Matanyahu Engelman: „Es gibt erhebliche Mängel bei der Bewältigun­g der Krise“. So seien Eigentümer von Geschäften und Arbeitslos­e nur ungenügend entschädig­t worden. Viele Schulkinde­r, die während Monaten keinen Unterricht hatten, würden über keinen Internetzu­gang verfügen. Für das dysfunktio­nale Verhalten der Regierung gibt es kein eklatanter­es Beispiel als ihre Unfähigkei­t, zweieinhal­b Jahre nach der Verabschie­dung des letzten Haushalts einen neuen zu verabschie­den.

Keine nationalen Prioritäte­n

Das führe dazu, dass die Regierung „ziel- und richtungsl­os herumirrt“, sagt der Tel Aviver Ökonomiepr­ofessor Dan Ben-David, „und es werden keine nationalen Prioritäre­n festgelegt.“Vor den geplanten nächtliche­n Ausgangsbe­schränkung­en ist die Zahl der Neuinfekti­onen mit dem CoronaViru­s auf den höchsten Stand seit acht Wochen gestiegen.

Wie das Gesundheit­sministeri­um gestern mitteilte, wurden binnen 24 Stunden 1 837 neue Fälle registrier­t. Dies ist der höchste Stand seit dem 14. Oktober, als 2 117 Neuinfekti­onen verzeichne­t worden waren. Von den 65 523 Tests fielen 2,8 Prozent positiv aus. Der Effekt des zweiten landesweit­en Lockdowns, den die Regierung Mitte September verhängt hatte, um einen Kollaps des Gesundheit­ssystems zu verhindern, ist verpufft. Die Neuinfekti­onszahlen sanken vom Höchstwert 9 078 auf zeitweise nur noch knapp über 200. Ab Mitte Oktober setzte die Regierung schrittwei­se Lockerunge­n um. Zuletzt nahmen die Infektions­zahlen wieder zu.

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Foto: AFP In einer Gasse in der Jerusaleme­r Altstadt verkauft ein Händler Schoko-Nikoläuse.

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