Israel vor der dritten Welle
Die Regierung prüft drastische Maßnahmen vor den jüdischen und christlichen Feiertagen
An Israels Corona-Front gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. In den nächsten Tagen sollen von Pfizer vier Millionen Impfdosen ausgeliefert werden, die zwei Millionen Israelis verabreicht werden können. Etwas später werden sechs Millionen Impfstoffe nach dem mRNA-Verfahren von Moderna erwartet. Sobald die US-Arzneimittelbehörde FDA ihr OK gegeben hat, wird mit der Impfaktion begonnen. Bereits im März werde die Entlastung spürbar sein, sagen optimistische Experten.
Mittlerweile – und das ist die schlechte Nachricht – entgleitet der Regierung (wieder einmal) die Kontrolle. Die Corona-Zahlen schnellen nach oben. „Wir wissen bereits, dass dies der Beginn der dritten Welle ist“, warnt die Leiterin des öffentlichen Gesundheitswesens, Sharon Alroy-Preis.
Ausgangssperre „ineffizient“Vor den anstehenden jüdischen und christlichen Festtagen, die traditionellerweise in der Familie und mit Freunden gefeiert werden, dürfte sich die Krise zuspitzen, sagen Fachleute im Gesundheitsministerium. Damit das morgen beginnende Chanukkafest bei Juden, Weihnachten bei Christen und Ende des Jahres die Silvesterpartys nicht zu Virenschleudern werden, prüft die Regierung drastische Maßnahmen. Sie sollen den Corona-Trend nach unten drücken oder zumindest nicht ansteigen lassen. Auch ein Teil-Lockdown Anfang 2021 ist nicht ausgeschlossen, falls die Zahl der Corona-Fälle weiter ansteigt. Auf eine angekündigte nächtliche Ausgangssperre will die Regierung verzichten, weil sie von allen Fachleuten als „ineffizient“abgelehnt wird.
Für das jüngste Ansteigen der Fallzahlen machen Experten die Regierung verantwortlich. Sie werfen den Behörden vor, Vorschriften zu wenig konsequent oder überhaupt nicht durchzusetzen. So finden zum Beispiel Hochzeiten mit mehreren hundert Teilnehmern statt, obwohl Menschenansammlungen verboten sind. Die Einreise von Touristen ist seit Monaten zwar untersagt – aber Tausende von Israelis kehren von ihrem Urlaub in HotspotLändern wie der Türkei oder Serbien zurück, ohne dass sie getestet werden oder in die Quarantäne müssen.
Das Vertrauen in die CoronaPolitik der Regierung schwindet. Statt gesundheitspolitische Überlegungen stelle das Kabinett innenpolitische Motive ins Zentrum, ist mehr als die Hälfte der Bürger überzeugt. Wichtige Verbündete von Premier Benjamin Netanjahu würden geschont, zum Beispiel die Ultra-Orthodoxen, auf die der Konservative angewiesen ist, um politisch zu überleben. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung, ergab letzte Woche eine Umfrage,
trauen weder dem Amtsinhaber noch dem alternativen Regierungschef Benny Gantz. „Durch eine Kombination aus inkonsistenter Regierungspolitik, eklatanter Missachtung von Vorschriften in bestimmten Bevölkerungsgruppen und dem unvermeidlichen Ergebnis der Öffnung des Landes nimmt die Zahl der Infizierten stetig zu“, heißt es dazu zum Beispiel in einem Leitartikel der „Jerusalem Post“.
Nach acht Monaten im Pandemie-Modus sei Israel nicht ausreichend auf den Winter vorbereitet und stelle die falschen Leute unter Quarantäne, hieß es neulich in einem Bericht des staatlichen Rechnungsprüfers Matanyahu Engelman: „Es gibt erhebliche Mängel bei der Bewältigung der Krise“. So seien Eigentümer von Geschäften und Arbeitslose nur ungenügend entschädigt worden. Viele Schulkinder, die während Monaten keinen Unterricht hatten, würden über keinen Internetzugang verfügen. Für das dysfunktionale Verhalten der Regierung gibt es kein eklatanteres Beispiel als ihre Unfähigkeit, zweieinhalb Jahre nach der Verabschiedung des letzten Haushalts einen neuen zu verabschieden.
Keine nationalen Prioritäten
Das führe dazu, dass die Regierung „ziel- und richtungslos herumirrt“, sagt der Tel Aviver Ökonomieprofessor Dan Ben-David, „und es werden keine nationalen Prioritären festgelegt.“Vor den geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen ist die Zahl der Neuinfektionen mit dem CoronaVirus auf den höchsten Stand seit acht Wochen gestiegen.
Wie das Gesundheitsministerium gestern mitteilte, wurden binnen 24 Stunden 1 837 neue Fälle registriert. Dies ist der höchste Stand seit dem 14. Oktober, als 2 117 Neuinfektionen verzeichnet worden waren. Von den 65 523 Tests fielen 2,8 Prozent positiv aus. Der Effekt des zweiten landesweiten Lockdowns, den die Regierung Mitte September verhängt hatte, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, ist verpufft. Die Neuinfektionszahlen sanken vom Höchstwert 9 078 auf zeitweise nur noch knapp über 200. Ab Mitte Oktober setzte die Regierung schrittweise Lockerungen um. Zuletzt nahmen die Infektionszahlen wieder zu.