1 000 neue Wörter in Corona-Zeiten
Wenn plötzlich Hygiene-Ritter und Seuchen-Sherrifs im Sprachgebrauch sind
Berlin. In der Corona-Krise hat man im deutschen Sprachraum ganz neue Wörter gelernt. Der Wortschatz hat sich erweitert – um Begriffe wie Infodemie, Lockdown oder Corona-Party. Für Sprachforscher ist das eine goldene Zeit.
Nicht nur Viren verbreiten sich in ungeheurer Schnelligkeit, sondern auch Wörter. Etwa tausend Wörter und Wortverbindungen hat das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) zu diesem Thema inzwischen gesammelt und online dokumentiert, wie die Sprachforscher kürzlich mitteilten.
Verschmelzungen, Wortnetze und Fachsprache
Sprache als Spiegel der Gesellschaft: Manche Begriffe sind komplett neu, andere werden in neuer Bedeutung verwendet. Manche – wie Homeschooling, Lockdown und tracken – sind aus dem Englischen entlehnt, andere – wie Spuckschutzhaube, Corona-Kontakttagebuch oder Übersterblichkeit – typisch deutsch. Wieder andere sind Wortverschmelzungen aus bereits bekannten Elementen, wie etwa die Corona-Party, der Zombieflughafen oder der „Jo-JoLockdown“. Und was bislang nur in wissenschaftlicher Fachsprache bekannt war – von Covid-19 über die Sieben-Tage-Inzidenz bis zur Herdenimmunität – ist in die Alltagssprache eingewandert.
Insbesondere um den Begriff Corona hat sich ein Wortnetz gesponnen. Es reicht vom Begriff „coronisierte Gesellschaft“über Corona-Bonds bis zum Corona-Ticker und zum Corona-Kabinett.
Goldene Zeiten für Sprachforscher also. Das Mannheimer Sprach-Institut mahnt allerdings zur Vorsicht: Es sei ungewiss, ob sich der neue Wortschatz langfristig halte und ob „die Begriffe eine gewisse Verbreitung in die Allgemeinsprache erfahren werden“, heißt es.
So sehen das auch die Sprachjäger der Duden-Redaktion, die wichtigste Rechtschreibinstanz des deutschen Sprachraums. Ständig durchforsten Mitarbeiter und Computer ein riesiges Gebirge aus Zeitungen, Büchern und Alltagstexten, um neue Wörter zu finden und die Häufigkeit ihres Vorkommens zu ermitteln.
Um in den Duden zu gelangen, müssen Begriffe über einen gewissen Zeitraum immer wieder in unterschiedlichen Quellen auftauchen. „Es dürfen keine Eintagsfliegen sein“, sagt Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Dudenredaktion. Begriffe, die das schaffen, werden zunächst in das OnlineVerzeichnis aufgenommen. Und nur, wer sich eine gewisse Zeit lang etabliert, schafft auch den Sprung in den gedruckten Duden, der alle drei bis fünf Jahre neu erscheint. „Ein neuer Wortschatz entsteht, aber wir wissen noch nicht, wie langlebig das ist“, sagt Kunkel-Razum im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur .
In der Krise greifen Wissenschaftler, Politiker und Medien natürlich auch auf Altbekanntes zurück. Wörter wie Triage oder Pandemie stehen schon länger im Duden. Auch der Begriff Geisterspiel
ist ein Beispiel für ein Wort, das im Sport schon länger eine Rolle spielt, wenn Regelverstöße von Vereinen und Fangruppen bestraft werden.
Das Coronavirus findet sich als Begriff spätestens seit Anfang des Jahrtausends im deutschen Wortschatz, nachdem die SARS-Epidemie sich von China aus verbreitete. Der Begriff Triage, der das Einteilen von Verletzten nach Schwere der Verletzung beschreibt, geht schon auf das 18. Jahrhundert zurück.
Wortwahl bewirkt Meinungen, Stimmungen und Emotionen
In der Zusammensetzung neu ist die „Infodemie“, eine Wortverschmelzung aus Information und Pandemie. Bekannt gemacht hat den Begriff die Weltgesundheitsorganisation WHO, die sich Anfang Februar über eine Überforderung der Öffentlichkeit durch Corona-Nachrichten sorgte. „Die Infodemie kann auch zu einer Corona-Mattheit führen“, warnte sie. Klar wird dadurch auch, dass manche
Die Infodemie kann auch zu einer Corona-Mattheit führen. Weltgesundheitsorganisation WHO
Begriffe sehr bewusst geprägt werden, um Meinungen, Stimmungen und Emotionen zu beeinflussen. So legen das häufig auftretende Bild der Welle (Corona-Welle, Pandemiewelle, zweite Welle, Wellenbrecher) oder der CoronaTsunami ein Gefühl von Hilflosigkeit oder Überforderung nahe. Auch das Militärische ist wortprägend: Von der Virusfront über den Anti-Corona-Schutzwall und die Quarantänefestung wird Handlungsfähigkeit und Kampfeswille signalisiert. Und wer Hygiene-Ritter oder Seuchen-Sherrifs kritisiert, liefert eine Portion Verachtung mit.
Die neu entstandenen Wörter und Wortverbindungen reichen von Abstandsgebot und AHA-Regel über Balkonklatscher, C-Wort, Coronials, Drive-in-Test, Superspreaderereignis und Wellenbrecherlockdown bis zu Zoomparty. Die Forscher führen auf einer Internetseite alle Corona-Begriffe mit Erklärung auf.
Aber auch unabhängig von Corona haben demnach zahlreiche neue Wörter und Wortverbindungen den Wortschatz in den 2010er Jahren erweitert. Politische und gesellschaftliche Debatten, Trends und technische Innovationen hinterlassen Spuren in der Sprache: Wer eine Zeit lang auf digitale Medien verzichtet, möchte „digital entgiften“. Auf Debatten zu Umwelt
und Nachhaltigkeit verweisen etwa die Begriffe upcyceln, urbane Landwirtschaft, Plastiksteuer, Pop-up-Radwege, Radschnellwege oder Autoposer.
Auch unabhängig von Corona sind neue Wörter da
Auch der Aluhut und Prepper sind „seit Anfang des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts in Gebrauch“. Das gelte auch für Begriffe wie Pegidist und Reichsbürger, in denen sich aktuelle politische Ereignisse spiegelten. Sie seien zwar schon mehrere Jahre belegt, würden aktuell aber wieder stärker genutzt.
Auf weitere politische Entwicklungen beziehen sich Bezeichnungen wie Arabellion, Fracking und Kohlekommission. Oft zu hören oder lesen seien auch die Begriffe Brexiteer und Remainer im Kontext des EU-Austritts von Großbritannien.
An gesellschaftlichen Trends, die sich in der Sprache niederschlagen, führt die Liste Wortneuschöpfungen wie Bubble-Tea, Duckface, Retweet, Shitstorm und Tiny House. Das Online-Wörterbuch des Leibniz-Institut für Deutsche Sprache mit Wortneuschöpfungen der vergangenen zehn Jahre erklärt zu jedem Wort die Bedeutung, Verwendung, Grammatik und Herkunft. KNA/dpa
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