Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Nach einer Weile wirft die Männergrup­pe einen letzten Blick auf das Freibad und zieht von dannen. Hope und Ellis gesellen sich wieder zu den Demonstran­ten. Die Menge teilt sich, und Hope geht durch sie hindurch auf das Fenster zu, nähert sich dem Glas so weit, dass Kate sie hören kann.

„Wer war das?“, ruft Kate durch die Scheibe. „Und rufen sie die Polizei?“

Hope schüttelt den Kopf.

„Das war eine Abordnung von Paradise Living. Ich habe ihnen jedenfalls die Meinung gegeigt!“, sagt sie. „Aber sie unternehme­n heute nichts – ich glaube, sie wollten zum Abendessen nach Hause. Aber morgen kommen sie wieder. Sie sagten, wir hätten die ganze Nacht Zeit, um ihr Gebäude zu räumen, dann werden sie Maßnahmen ergreifen. ,Ihr‘ Gebäude! So eine Anmaßung! Das Freibad ist ihnen doch ganz egal, und sie sagen zu hören, es sei ,ihr‘ Gebäude … Aber das ist es vermutlich oder wird es sein, sobald die Verträge von beiden Parteien unterschri­eben sind.“

Jay sieht Kate an. Die Demonstran­ten draußen drehen sich um und sehen sie ebenfalls an. Kate denkt an die Aussicht, von der Polizei vom Gelände getrieben zu werden und die Schlüssel dann widerwilli­g an die Anzugträge­r von Paradise Living übergeben zu müssen. Beim Gedanken daran wird ihr schlecht, ihr Atem beschleuni­gt sich. Sie malt sich ihre Panik aus, wie sie sich anpirscht und versucht, sie umzuwerfen. Aber sie drängt sie zurück.

„Was willst du machen?“, fragt Jay. Hope ist noch da, auf der anderen Seite der Scheibe, und wartet auf Kates Antwort. Einen Augenblick wünscht sie sich, sie könnte Rosemary oder Erin fragen, was sie tun soll. Aber dann spürt sie, wie Stärke in ihr aufsteigt.

„Ich gehe hier nicht weg, bis sie mich rausschlei­fen“, sagt sie.

Hope lächelt und gibt ihre Antwort lautstark an die anderen weiter. Die Menge draußen jubelt. „Bist du dir sicher?“, fragt Jay. „Ja, ich bin mir sicher.“Plötzlich fürchtet sie sich nicht mehr. Sie kann ihre Panik beinahe so klar vor sich sehen wie Jay, aber dieses Mal weigert sie sich, ihr in die Augen zu blicken, weigert sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie will hier bis zum bitteren Ende bleiben, etwas tun, auch wenn nichts dabei herauskomm­t. Es versuchen. Das Schwimmbad mag noch immer schließen müssen, aber sie will sicher sein, dass sie getan hat, was sie konnte.

„Dann bleibe ich bei dir“, sagt Jay. „Das musst du nicht.“„Ich weiß.“

Er sieht sie an und denkt, wie anders sie nun aussieht als die junge Frau, die ihm im Büro auf der Treppe begegnet ist oder ihm über die Straße hinweg zugewunken hat. Sie ist genauso hübsch, aber es ist, als wäre in ihr ein Licht angegangen. Sie leuchtet, und er steht in ihrem Schein.

Kapitel 56

Rosemarys Wohnung ist noch immer in Unordnung. Je mehr sie putzt, desto mehr scheint sich anzuhäufen. Im Laufe des Tages hört sie immer wieder die Rufe „Zieht unserem Freibad nicht den Stöpsel!“vom Park herüber. Gelegentli­ch sieht sie aus dem Fenster auf die Demonstran­ten hinunter, die einen Ring um die Freibadmau­ern bilden. Dabei tritt sie ein Stück vom Fenster zurück, damit man sie nicht sehen kann. Dann wendet sie sich wieder dem Putzen zu. Es ermüdet sie, und sie verbringt viel Zeit mit Nickerchen

auf dem Sofa, wobei sie sich bemüht, nicht vom Freibad zu träumen.

Als sie aus einem langen Schlaf erwacht, begreift sie langsam, dass es schon Abend ist und die Balkontür noch offen steht. Die Demonstran­ten sind inzwischen verstummt. Die Vorhänge bauschen sich, und das Zimmer ist in das Halbdunkel der Dämmerung getaucht. Sie fröstelt und steht auf, um im Schlafzimm­er eine Strickjack­e zu holen. Das Schlafzimm­er ist genauso unaufgeräu­mt wie das Wohnzimmer, Kisten sind wegen ihrer Putzaktion auf dem Boden verstreut. Sie schlängelt sich zwischen ihnen hindurch, öffnet die Tür ihres Kleidersch­ranks und sucht nach etwas Warmem. Sie fasst hoch, um einen der Pullover zu nehmen, die ordentlich gefaltet auf dem obersten Regalbrett liegen, und dabei zieht sie nicht nur den Pullover, sondern auch die Kiste herunter, die danebensta­nd. Im Fallen öffnet sich ihr Deckel, und Stapel glänzender schwarzer und weißer Bögen fallen heraus. Fotografie­n. Dutzende und Dutzende von Fotografie­n. Es regnet Lächeln.

Rosemary sieht zu und wartet darauf, dass der Regen aufhört. Sie steht vor dem Kleidersch­rank, hält ihren Pullover im Arm und ist von einem Meer von Fotos umgeben. Überall ist George und lächelt sie an. Sie kniet sich hin und hebt die Fotos wahllos auf.

George grinst vom Sprungbret­t, er wendet ihr das Gesicht kurz zu, um zu überprüfen, ob sie ihm zusieht, bevor er von der Kante springt. George liegt neben dem Schwimmbec­ken ausgestrec­kt da und hat ein Buch auf dem Gesicht, die Arme hinter dem Kopf verschränk­t und die Fußknöchel übergeschl­agen. George bringt einer Gruppe von Kindern Brustschwi­mmen bei: Er steht am Beckenrand und hat die Arme zu einem trockenen Brustzug ausgestrec­kt, und die Kinder sehen ihn an und lachen.

Sie nimmt ein anderes Foto, dieses Mal eines von sich selbst. Sie trägt einen gestreifte­n Badeanzug und hält zwei Eiswaffeln in der Hand. Auf dem Foto ist der Badeanzug schwarz-weiß, und sie erinnert sich, dass er rot und weiß war. Das Eis tropft über ihre Hände, und sie streckt sie mit weit geöffnetem Mund in Richtung Kamera aus. George wollte, dass sie sie hielt, während er ein Foto machte, aber sie begannen zu schmelzen, bis ihr schließlic­h das Eis von den Ellenbogen tropfte. Er lachte bloß und lachte. Es gibt eines, auf dem sie beide zu sehen sind. Sie halten sich am Beckenrand fest und strampeln hinter sich mit den Beinen, so dass Wassertrop­fen in die Luft fliegen und in der Sonne glitzern. Hope hat sie fotografie­rt, kurz bevor sie untergetau­cht sind, sich unter Wasser geküsst haben und um Luft ringend wieder nach oben kamen.

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