EU-Gipfel: Mühsamer Klima-Kompromiss
Staats- und Regierungschefs fassen wichtige Beschlüsse nach 21 Stunden Verhandlungen
Die EU schraubt ihr Klimaziel für 2030 deutlich in die Höhe: Bis dahin sollen innerhalb der Europäischen Union 55 Prozent weniger Treibhausgase produziert werden als im Jahr 1990. Bisher war das Ziel minus 40 Prozent. Auf die neue Marke einigte sich der EU-Gipfel in Brüssel am Freitagmorgen nach einem extrem langwierigen Streit mit Polen, der die ganze Nacht dauerte. Das Land trug das neue Ziel schließlich mit – erstritt dafür aber zusätzliche Zusagen für finanzielle Hilfen bei der Energiewende.
Der Luxemburger Premierminister Xavier Bettel (DP) zeigte sich erleichtert über den Beschluss. Dafür habe sich eine durchwachte Nacht gelohnt, sagte er zum Abschluss des Gipfels. Ratschef Charles Michel sagte: „War es leicht? Nein, das war nicht leicht.“Er sei sehr froh, dass doch noch Einigkeit erzielt worden sei.
Industrieverbände sehen die Verschärfung als sehr ehrgeizig. Sie ist verbunden mit hohen Milliardeninvestitionen. Umweltschützer und Grüne kritisieren hingegen, dass zum Stopp der gefährlichen Überhitzung der Erde viel mehr nötig wäre – mindestens minus 65 Prozent. Zudem habe die EU ihr Ziel verwässert. Die neue Marke soll noch vor Jahresende an die Vereinten Nationen gemeldet werden. Dies ist nach dem Pariser Klimaabkommen von 2015 so vorgesehen.
Für die EU ist es eine Etappe auf dem Weg, bis 2050 klimaneutral zu werden, also alle Treibhausgase zu vermeiden oder zu speichern. Nötig sind in den nächsten Jahren unter anderem eine schnelle Abkehr von Kohle, Öl und Gas, ein rascher Umstieg auf Ökostrom und Fahrzeuge ohne Abgase sowie die Renovierung von Millionen Häusern. Die Milliardeninvestitionen sehen Befürworter auch als Chance für neue Jobs und Wohlstand. Polen und andere EU-Staaten im
Osten sind bislang noch stark auf Kohle angewiesen. „Dort sind Kohlegruben im Alltag noch eine Realität“, erklärte Bettel vor der Presse. Bei der Energiewende haben sie deshalb einen weiteren Weg zurückzulegen.
Sie pochen auf finanzielle Unterstützung. Dafür sind Milliardentöpfe geplant: ein Modernisierungsfonds, der aus Einnahmen aus dem Emissionshandel gespeist wird; ein Fonds für gerechten Wandel, aber auch der 750 Milliarden schwere Corona-Aufbaufonds, der zu mindestens 30 Prozent zur Umsetzung der Klimaziele genutzt werden soll.
Rechtsstaatsmechanismus verkommt zur Interpretationsfrage Das Haushaltspaket war zuletzt wegen eines Vetos durch Ungarn und Polen blockiert. Eine Einigung im Haushaltsstreit bahnte beim Gipfel auch den Weg für den Klimabeschluss. Nach einem von Deutschland vermittelten Kompromiss zum neuen Rechtsstaatsmechanismus gaben Ungarn und
Polen ihre Blockade des 1,8 Billionen Euro schweren Haushaltsplans für die nächsten sieben Jahre auf. Beide Ländern bekamen zugesichert, dass sie den Mechanismus vom Europäischen Gerichtshof überprüfen lassen können. Besonders Luxemburg und die Niederlande beharrten auf der Verknüpfung der Auszahlung von EUGeldern mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien.
In der Erklärung wird unter anderem festgelegt, welche Möglichkeiten es gibt, sich gegen die Anwendung
des Verfahrens zu wehren. Eine davon ist eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Ungarn und Polen kündigten bereits an, das Gericht auch einzuschalten. Kritiker fürchten, dass die Anwendung der Rechtsstaatsklausel damit um viele Monate hinausgezögert werden könnte. Vor allem der ungarische Premierminister Viktor Orbán hofft, dadurch Zeit zu gewinnen. 2022 wird in Ungarn gewählt. Wenn der Mechanismus erst zu diesem Zeitpunkt in Kraft tritt, dann könnte Orbán seinen Wahlkampf ohne Sanktionen bestreiten.
Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen betonte, der EuGH sei der Ort, wo EU-Staaten unterschiedliche Auffassungen über Rechtstexte klären lassen könnten. Die Klausel werde vom 1. Januar an gelten, sofern die letzten Abstimmungen planmäßig verliefen. Dann werde die EU-Kommission mögliche Fälle im Rahmen des neuen Mechanismus betrachten. „Wenn ein Bruch der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, wird dieser Fall aufgenommen.“Sobald der EuGH geurteilt habe, würden diese Fälle abgearbeitet. Es werde kein einziger Fall verloren gehen.
Der Türkei bleiben harte EUSanktionen vorerst erspart. Trotz anhaltender Konfrontation ebneten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem Gipfel in Brüssel lediglich den Weg für neue Strafmaßnahmen gegen einzelne Personen und Unternehmen. Der Beschluss sieht nun vor, in den kommenden Wochen weitere Beteiligte an der umstrittenen türkischen Suche nach Erdgas vor Zypern mit Vermögenssperren und EU-Einreiseverboten zu belegen. Weitreichendere Schritte wie Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige könnten beim nächsten EU-Gipfel im März auf den Weg gebracht werden. M.K. / dpa