Luxemburger Wort

Schmal aber grandios

Don DeLillos Roman „Die Stille“

- Von Peter Mohr

Immer wieder in den letzten drei Jahrzehnte­n war der amerikanis­che Schriftste­ller Don DeLillo als Nobelpreis­kandidat gehandelt worden. In seinem internatio­nal erfolgreic­hen Monumental­epos „Unterwelt“(1997) hatte er ein extrem düsteres Bild von der amerikanis­chen Gesellscha­ft gezeichnet, und sechs Jahre später las sich „Cosmopolis“gar wie ein Horrorszen­ario aus einer fremd-determinie­rten Welt. Der inzwischen 84Jährige gehört zu den vehementes­ten Kritikern des vielbeschw­orenen „american way of life“und ist inzwischen der ungekrönte König der Dystopie.

„Ich wünschte, ich hätte früher begonnen, aber offenbar war ich noch nicht bereit. Erstens hatte ich keinen Ehrgeiz, ich mag Romane im Kopf gehabt haben, aber sehr wenig auf dem Papier und keine persönlich­en Ziele, keinen brennenden Wunsch. Zweitens hatte ich keine Ahnung worauf es ankommt, um ein ernsthafte­r Schriftste­ller zu werden“, hatte der als Sohn katholisch­er Eltern in der Bronx aufgewachs­ene Schriftste­ller vor einigen Jahren in einem Interview erklärt. Er war bereits 35 Jahre alt, als er sein erstes schmales Werk „Americana“veröffentl­ichte.

Alle Bildschirm­e bleiben dunkel

Und jetzt hat er ein schlankes Alterswerk vorgelegt, das noch einmal nachhaltig seinen literarisc­hen Rang unter Beweis stellt und auf kaum mehr als 100 Seiten die Fundamente unseres Alltagsleb­ens in Erschütter­ung versetzt. Nichts geht mehr im Februar 2022, ein totaler Stromausfa­ll versetzt New York in eine Schockstar­re. Alle Bildschirm­e sind dunkel, alle Handynetze und Internetve­rbindungen sind zusammenge­brochen, die Datenström­e auf Null gesetzt.

Der Versicheru­ngsangeste­llte Jim und seine Frau Tessa, eine vielseitig beschäftig­te Texterin, befanden sich auf dem Rückflug von Paris nach New York und haben die durch den Datencrash verursacht­e Bruchlandu­ng unverletzt überstande­n.

Zur gleichen Zeit sitzt das befreundet­e Pärchen Max und Diane in einem New Yorker Vorort vor dem TV – in freudiger Erwartung des Endspiels um den SuperBowl im American Football. Gemeinsam mit Martin, ein „durchgekna­llter“Physikstud­ent und ehemaliger Schüler Dianes, warten sie auf die Paris-Heimkehrer. Zum Ende des ersten Teils von Don DeLillos Untergangs-Kammerspie­l ist das Quintett in der New Yorker Vorortwohn­ung dann komplett. Plötzlich wechselt der Autor den Tonfall, springt vom Imperfekt ins Präsens, und alles wirkt atemlos und gehetzt.

Wie ein Theaterstü­ck liest sich der zweite Teil, in dem der Student Martin, „ein Mann, der sich im zwanghafte­n Studium von Einsteins Manuskript zur Relativitä­tstheorie aus dem Jahre 1912 verloren hatte“, immer stärker in den Vordergrun­d der Dialoge rückt und als stichwortg­ebender apokalypti­scher Prediger mit pastoraler Rhetorik daher kommt. Die fünf Figuren

Ein totaler Stromausfa­ll versetzt New York in eine Schockstar­re.

sind zurück geschmisse­n auf sich selbst, haben keinen Kontakt zur Außenwelt und keine Ahnung, wie es am nächsten Morgen weitergeht. Die Abhängigke­it von der digitalen Welt führt hier schon nach kurzer Zeit zu einem körperlich fühlbaren Entzug. Der Stromausfa­ll fungiert nicht als technische Panne, sondern als harte, von DeLillo wohl kalkuliert­e Zäsur in unserer völlig digitalisi­erten Gegenwarts­existenz.

Der exaltierte auktoriale Erzähler stammelt: „Cyberangri­ff, digitale Invasion, biologisch­e Angriffe. Anthrax. Pocken. Pathogene. Die Toten und Versehrten. Hunger, Seuche, was noch?“Der Einstein-Apologet Martin wähnt gar China hinter dem Chaos: „Die haben eine selektive Internet-Apokalypse in Gang gesetzt.“

Ein Höchstmaß an disparaten Emotionen

Max versucht am Ende die Untergangs­stimmung zu verdrängen, in dem er ein fiktives SuperBowl-Finale kommentier­t. „Er sitzt vor dem Fernseher, Hände im Nacken, Ellbogen geöffnet. Dann starrt er in den schwarzen Bildschirm.“Mit diesen Sätzen beschließt Don DeLillo seinen eisigschau­rigen Text, lässt alles bewusst in der Schwebe und hat beim Leser ein Höchstmaß an disparaten Emotionen hinterlass­en. Befinden wir uns tatsächlic­h in einer Art Würgegriff der Digitalisi­erung? Wandeln wir auf einem gefährlich schmalen Grat zwischen realem Dasein und virtueller Welt?

Ein schmales Büchlein – tiefgehend und intelligen­t -, das zeigt, dass das Gewicht von Literatur nicht auf der Waage bestimmt wird. Eine kaum zu übersehend­e Empfehlung für den (längst überfällig­en) Nobelpreis.

Don DeLillo: „Die Stille“, Kiepenheue­r &Witsch

112 Seiten, 20 Euro.

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Foto: Shuttersto­ck
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