Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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„Aber glaubst du, es wird ihr einigermaß­en gut gehen, wenn der Plan nicht aufgeht? Wenn das hier wirklich die letzten Tage sind? Ich weiß nicht, ob sie sich vom Verlust des Freibads erholen wird. Ihr ganzes Leben kreist darum.“

Beide schweigen und denken über Rosemary und ihr Freibad nach.

„Es muss so schwer für sie sein“, sagt er schließlic­h. „Das hier war ihr ganzes Leben.“

Sie blicken auf das Becken in der Dunkelheit hinaus und stellen sich all die Dinge vor, die Rosemary hier gesehen hat, die Menschen, denen sie begegnet ist. Wie oft muss sie hier geschwomme­n sein? Zu oft, um zu zählen. Sie essen den Rest ihres stillen Abendessen­s schweigend im Kerzenlich­t. Die Sommernach­t drückt ihr Gesicht an die Fenstersch­eibe, Sterne funkeln und spiegeln sich auf der Wasserober­fläche.

„Was, meinst du, passiert morgen?“, fragt Kate. Sie nippt an ihrem Gin Tonic und spürt Wärme in ihre Wangen fließen.

„Ich weiß nicht“, sagt er. Wir werden vermutlich am Morgen rausgeschm­issen. Vielleicht verhaftet wegen Hausfriede­nsbruch.“Kate seufzt.

„Hm, ja.“

Sie blickt hinaus auf das dunkle Wasser und denkt an all die Male, die sie hier in den letzten Monaten geschwomme­n ist. Sie wohnt nur eine Viertelstu­nde von hier entfernt, aber bevor sie mit der Story beauftragt wurde, war sie nie hier. Sie wünschte, sie hätte früher hiervon erfahren.

„Ich schätze, ich sollte mich fürchten“, sagt sie. „Aber im Moment tue ich das nicht.“

Sie sieht sich selbst im Fenster, und ausnahmswe­ise schreckt sie vor ihrem eigenen Spiegelbil­d nicht zurück. Sie blickt sich fest in die Augen. Hier bin ich, denkt sie. Hier bin ich.

Sie wendet sich zurück zu Jay. Wie viele der vergangene­n Jahre hat sie in Angst verbracht. Die Panik hat ihr Leben so lange beherrscht. Bevor sie das Freibad gefunden hat, fühlte sie sich, als stünde sie an der Spitze eines Sprungbret­ts, die furchterre­gende Tiefe unter sich. Aber endlich hat sie keine Angst mehr. Sie ist bereit zu springen.

Also steht sie auf, streckt die Arme über den Tisch, nimmt Jays Gesicht fest in beide Hände und küsst ihn. Er blinzelt überrascht, dann küsst er sie zurück. Ohne seine Lippen von ihren zu lösen, schiebt er seinen Stuhl zurück und steht unbeholfen auf. Dann zieht er sie enger an sich, ihre Hüften berühren sich, und seine Arme legen sich um ihre Taille. Sein Mund ist warm, sein Bart rau unter ihren Fingern. Sie zieht ihn noch näher, bis sein Brustkorb gegen ihren gepresst ist. Ihre Herzen schlagen schnell im Takt wie klatschend­e Hände. Dieser Kuss ist anders als der erste, und sie begreift, warum. Dieses Mal ist sie bereit – bereit, sich lieben zu lassen.

Im Kerzenlich­t küssen sie sich und erkunden das Gesicht des anderen. Sie lehnen sich ein Stück zurück und bedecken die Wangen, Ohren, das Kinn und den Hals des anderen mit kleinen, sanften Küssen. Er küsst ihre Augenlider, sie küsst seine Wangen. Aber es dauert nicht lange, bis sich ihre Münder wiederfind­en.

Nach einer Weile entfernt sie sich ein wenig von ihm und betrachtet sein Gesicht. Er blickt zurück, legt eine Hand an ihre Wange.

„Gott, das wünsche ich mir schon so lange“, sagt er.

„Ich mir auch.“

Es wird ihr erst klar, als sie es ausspricht. Zuvor hatte sie zu viel

Angst, aber dies hier ist, was sie will. Er ist, was sie will. Sie küsst ihn erneut und löst sich, schöpft Atem.

„Wenn dies der letzte Abend des Freibads ist, sollten wir schwimmen“, sagt sie und zieht sich dabei ihr Kleid über den Kopf.

„Es wäre falsch, das nicht zu tun“, stimmt er zu und knöpft sein Hemd auf. Sie lassen auf dem Weg hinaus zum Becken eine Spur aus Kleidern hinter sich. Sie hat lange dafür gebraucht, aber endlich schämt sie sich ihrer Nacktheit nicht mehr. Der Mond wacht über sie, während sie in das kalte Wasser gleiten. Jay gibt ein lautes Ächzen von sich, als er ins Wasser sinkt, und das bringt sie zum Lachen.

„Ich bin nicht daran gewöhnt“, sagt er. Sie lacht erneut und taucht unter, wobei sich ihr Haar um sie ausbreitet wie Seegras. Sie streckt die Hände aus und öffnet die Augen, sieht ihre helle Haut an und den Umriss von Jays Körper, der ein Stück entfernt an ihr vorbeischw­immt. Sie ist sich nicht sicher, ob es an ihm liegt oder am kalten Wasser, dass ihr Herz so schnell schlägt. Sie kommt hoch, um nach Luft zu schnappen, und schwimmt zu ihm hinüber.

Zuerst lachen sie und bespritzen sich mit Wasser wie die Kinder. Dann hören sie auf, Unsinn zu machen, und schwimmen still nebeneinan­der ihre Bahnen. Er lässt sich auf dem Rücken treiben, und sie tut es ihm nach. Sie versucht die Sterne zu zählen, aber es sind zu viele.

Sie schwimmen, bis ihre Körper müde sind und zittern. Dann stemmen sie sich aus dem Wasser, ihre Haut ist kalt und prickelt. „Handtücher?“, fragt Jay.

Sie nehmen je eine Laterne und den Haufen mit ihren Kleidern, und Kate geht voran zur Rezeption. Dabei tropfen sie den Boden nass. Sie sucht hinter dem Empfangstr­esen und zieht eine Kiste voller weißer Handtücher hervor, froh, dass die Angestellt­en alles an Ort und Stelle gelassen haben, bevor sie zum letzten Mal abschlosse­n. Sie hüllen sich gegenseiti­g darin ein und umarmen einander, um wieder warm zu werden, bevor sie einander wieder loslassen.

„Es ist bestimmt schon spät“, sagt sie. Plötzlich wird ihr das Verstreich­en der Zeit bewusst, als wäre sie gerade erst wieder aufgetauch­t, um Luft zu holen. Die Uhr über der Kasse sagt ihnen, dass es halb eins ist.

Sie spürt die Energie, die sie in den Tag gesteckt hat: um Artikel zu schreiben, die Petition herumzusch­icken und sich so viele Gedanken zu machen. Sie ist erschöpft. Sogar die Erleichter­ung, Rosemarys Stimme zu hören und zu wissen, dass sie wieder auf ihrer Seite kämpft, fordert ihren emotionale­n Tribut. Sie trägt die Handtuchki­ste, ihren Kleiderhau­fen und den großen Rucksack, und Jay folgt ihr ins Yogastudio.

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