Putins flauschiges Fell
Russlands Präsident trumpft auch im Pandemiejahr mit fabelhaften Zahlen auf und verliert am Ende doch die Geduld
Für manche Dinge fühlt sich Wladimir Putin inzwischen zu alt. So lässt er sich nicht mit dem vaterländischen Covid-19-Impfstoff „Sputnik V“impfen, weil dieser nur für Leute im Alter von 18 bis 60 Jahre geeignet sein soll. „In dem Sinn bin ich ziemlich gesetzestreu, höre auf den Rat der Spezialisten“, erklärte der 68-jährige. Ein paar Stirnfalten und graue Haare mehr, trotzdem wirkte der russische Präsident bei seiner 16. Jahrespressekonferenz gut in Form – allen Krankheitsgerüchten zum Trotz.
Allerdings war das Ritual auch dieses Jahr maßgeschneidert. Putin antwortete aus seiner Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau, umgeben nur von den Reportern des loyalen Kremlpools auf Online-Fragen von 774 akkreditierten Journalisten. Die meisten dieser Fragen schienen einer abgestimmten Regie zu folgen. Zwischendurch wurden Wünsche und Bitten „einfacher Bürger“an Putin verlesen. Ganz zu Beginn fragte eine Reporterin aus Magadan, wie Putin das zu Ende gehende Jahr bewerte. Das Stichwort zu seinem traditionell mit Erfolgszahlen gespickten Eingangsstatement. Mit den Jahren sei es wie mit gutem oder schlechtem Wetter. Wegen der Pandemie habe es ein „Meer von Problemen“gegeben. „Aber wir sind diesen Problemen würdig begegnet, sogar besser als andere Länder, die stolz auf ihre stabile Wirtschaft und ihr Gesundheitssystem sind.“
Zahlenfeuerwerk
So sei das Bruttoinlandsprodukt Russland nur um 3,6 Prozent gesunken, weniger als in den führenden EU-Staaten, die Produktion der verarbeitenden Industrie im November habe man sogar um 1,1 Prozent gesteigert, die der Landwirtschaft um 1,8 Prozent. Auch die Reallöhne würden bis zum Ende des Jahres um 1,5 Prozent wachsen. Allerdings bat Putin die Bürger nebenher, sich über diese Angabe nicht zu ärgern. „Sie entspricht ja nicht dem, was die Menschen im wirklichen Leben spüren.“
Auch einige Erfolge des russischen Gesundheitssystems, die Putin feierte, klangen fabelhaft. Man habe die Anzahl der Betten für Corona-Patienten von 48 000 auf 277 000 erhöht, die Anzahl der zuständigen Fachärzte von 8 300 auf 150 000. Russland sei das erste Land, das Impfstoffe erfunden und zu produzieren begonnen habe, werde schon Anfang 2021 Millionen Dosen herstellen. Kühne Worte, die Putin selbst relativierte: Da es an „Eisen“, also Produktionsanlagen,
für die Vakzine mangele, müsse man die Hilfe ausländischer Hersteller in Anspruch nehmen. Kurz darauf konfrontierte ihn eine Volontärin des Telefonzentrums mit Corona-Klagen des Volkes: Es sei unmöglich, Ärzte nach Hause zu rufen, Notarztwagen erschienen mit einer Woche Verspätung, Mediziner warteten vergeblich auf die ausgelobten Pandemie-Zuschläge. Putin versicherte, man werde alle Bitten systematisieren und unbedingt auf sie reagieren. Außerdem habe man schon über umgerechnet 55 Millionen Euro Direkthilfe locker gemacht. Worte der Trauer oder des Mitleids mit den zehntausenden Opfern der Seuche äußerte Putin an dieser Stelle nicht. Überhaupt wirkte er zufrieden mit der eigenen Politik.
Worte der Trauer oder des Mitleids mit den Zehntausenden Opfern der Seuche äußerte Putin nicht.
Angriff ist die beste Verteidigung Manche Fragen beantwortete der Präsident gestern Nachmittag eher langatmig als scharfzüngig, das Thema des Tages aber nannte er eine „Müllkippe“: Die neuen, vom Kreml noch nicht kommentierten, Presseenthüllungen über die Verwicklung des Staatssicherheitsdienstes FSB in den Giftanschlag auf den Oppositionellen Alexei Nawalny seien die „Legalisierung amerikanischer Geheimdienstinformationen“. Und sie zeigten, dass die US-Sicherheitsorgane Nawalny unterstützten. „Das bedeutet, dass unsere Dienste auf ihn achtgeben müssen. Aber nicht, dass man ihn vergiften muss. Wer braucht ihn denn?“Nawalnys
Im Vergleich zu Euch (dem Westen) ist unser Fell wirklich blütenweiß und flauschig. Wladimir Putin
Trick sei, dass er nun das Staatsoberhaupt beschuldige, um sein eigenes Image aufzupumpen. Putin ließ offen, warum ausgerechnet FSB-Giftstoffexperten Nawalny zur Zeit des Anschlags beschatteten. Und wie üblich vermied er Nawalnys Namen, sprach vom „Patienten einer Berliner Klinik“.
Als ein BBC-Reporter später nachhakte, wurde der Staatschef ungehalten. Er warf dem Westen vor, sie ignorierten alle russischen Angebote, im Fall Nawalny gemeinsam zu ermitteln. Und dann wies er jede Mitverantwortung am miserablen Ostwest-Verhältnis von sich. „Im Vergleich zu Euch ist unser Fell wirklich blütenweiß und flauschig“, schimpfe er. Putin reihte Vorwürfe gegen den Westen auf, von der NATO-Osterweiterung über die Krim-Sanktionen bis zum Ausstieg der USA aus mehreren Rüstungskontrollverträgen „Ihr seid doch kluge Leute. Warum haltet Ihr uns für Deppen?“Jetzt wirkte Wladimir Putin tatsächlich wie jemand, der seinen eigenen Worten glaubt.