„Luxemburg steht sich selbst im Weg“
Fedil-Chef René Winkin zieht nach dem Pandemie-Jahr Bilanz
Bisher schlägt sich die Industrie im Krisenjahr ordentlich. Trotz der gewaltigen Herausforderungen sind Massenentlassungen und Pleiten noch selten. Ein Gespräch mit René Winkin, Geschäftsführer des Industrieverbandes Fedil, über die Krise, die richtige Standortpolitik und schleichende Steuererhöhungen.
René Winkin, ist das Jahr 2020 aus der Sicht der Industrie ein
Jahr zum Vergessen oder muss man das differenzierter betrachten?
Die Lage ist beim herstellenden Gewerbe recht unterschiedlich. Generell kann man sagen, dass die Krise bestehende Schwächen sichtbarer gemacht hat. Sektoren, die ohnehin einen Strukturwandel durchlaufen, wie die Automobilindustrie und ihre Zulieferer, hat die Krise härter getroffen. Dort wäre es vielleicht ohnehin zu Restrukturierungen gekommen, aber durch die Krise erfolgen sie jetzt schneller und tiefgreifender. Dann gibt es aber auch Industrien, die gut weggekommen sind oder sogar indirekt von der Krise profitiert haben, wie IT-Dienstleister, die Gesundheitsbranche oder die Hersteller von Schutzkleidung.
Manchmal verläuft diese Trennlinie sogar mitten durch eine Branche – so läuft das Luftfrachtgeschäft gerade sehr gut, während das Passagiergeschäft leider eingebrochen ist. Natürlich wird man in allen Industrien schauen müssen, wie sich die Krise und geringere Budgets langfristig auf die Kundennachfrage auswirken.
Im Frühling wurden Befürchtungen geäußert, es könne im Herbst eine Insolvenzwelle geben. Bisher ist davon noch nichts zu spüren, denken Sie, dass das im neuen Jahr auf uns zukommt?
Ich denke, wenn es eine Insolvenzwelle geben wird, dann eher in den Bereichen Horesca und Einzelhandel. Die Industrie kann eine gewisse Strecke über Kurzarbeit überwinden, danach, wenn der Aufschwung ausbleibt, kommt es zu Restrukturierungen, wie das in den letzten Monaten auch schon geschehen ist. Ich denke nicht, dass wir schon bei den letzten Sozialplänen für diese Krise angekommen sind. Die Industrie mag auch Standorte schließen, aber ich glaube nicht, dass es hierzulande viele Insolvenzen im Sektor geben wird.
In den letzten Monaten wurden Sozialpläne, Produktionsverlagerungen und Restrukturierungen wie bei Guardian, ArcelorMittal oder Goodyear in erster Linie bei Industriefirmen beschlossen. Zeigt sich in der Krise, dass Luxemburg zu teuer ist für solche produzierenden Unternehmen?
Natürlich können die hohen Kosten ein Thema sein. Wenn Sie mit einem Investor aus Belgien oder Frankreich reden, der nach Luxemburg kommen will, dann müssen Sie ihm sagen, dass der Mindestlohn hier etwa auf dem Level eines Lehrers in diesen Ländern liegt. Es ist bei den Firmen immer eine Gesamtkalkulation, ob die Zuverlässigkeit des Standortes, die Verfügbarkeit qualifizierten Personals und eine hohe Produktivität die höheren Lohnkosten aufwiegen. Wenn Sie das nicht unbedingt brauchen und Ihre Waren genauso gut anderswo herstellen können, dann werden Sie sich darüber Gedanken machen, besonders in Bereichen, in denen Automatisierung schwierig ist. Dass manche Firmen sich für andere Standorte entscheiden, wird es deshalb immer wieder geben.
Was bedeutet das für die Industriepolitik?
Die entscheidende Frage ist immer: Sind wir präsent und wettbewerbsfähig bei den Produkten, die morgen gefragt sind? Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist der Elektronikkonzern TDK. Zuerst haben wir Daten auf Kassetten gespeichert, dann auf CD-ROMs. Mittlerweile nutzen wir nicht mal mehr Festplatten, sondern haben alles in der Cloud. Inzwischen weiß kaum noch jemand, wo das TDK-Werk in Luxemburg mal stand. Die permanente Sorge, die man haben muss, ist die Frage, fahren wir hier nur noch runter oder entsteht im gleichen Maß Neues?
Ich erwarte keine Insolvenzwelle.
Was können Politik und Industrie tun, damit die Produkte der Zukunft aus Luxemburg kommen?
Es gibt ja schon einige Initiativen, wie den Hochleistungscomputer, der im neuen Jahr nach Luxemburg kommt. Dann haben wir den Vorschlag gemacht, einen Technologiepark rund um Belval zu errichten. Wir denken, die Universität hat sich gut entwickelt, nun ist es an der Zeit, den nächsten großen Schritt zu machen. In einem Technologiepark könnte
bloc“geschlossen wurden. Wenn zum Beispiel Handwerksbetriebe nicht mehr außerhalb der eigenen Werkstatt tätig werden durften, stellte sich für Industriefirmen die Frage: Wer macht bei mir die Wartungsarbeiten, wo kriege ich einen Elektriker her? Sollte es noch mal zu einem Shutdown kommen, müssen wir das differenzierter hinbekommen.
Ohne die Pandemie würden wir seit Wochen nur noch über den nahenden Brexit sprechen. Welche Auswirkungen wird er auf die Industrie hier haben?
Ja, auch wenn manche Themen durch die Krise von den Titelseiten der Zeitungen verschwunden sind, gibt es die Probleme weiterhin. Die Handelspolitik ist ein großes Thema für uns, nicht nur in Bezug auf den Brexit. Für viele unserer Mitglieder stellen der Handelskonflikt mit den USA oder die Dumpingpreise aus Asien eine noch größere Herausforderung dar. Für uns ist es extrem wichtig, die internationalen Märkte intakt zu halten. Ohne Globalisierung wäre die Pandemie eine noch größere Katastrophe geworden. Ohne sie hätten wir nicht die Möglichkeit gehabt, uns innerhalb weniger Wochen mit Schutzausrüstung zu versorgen. Ohne sie wäre die Entwicklung von Impfstoffen in so kurzer Zeit nicht möglich gewesen. Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass es für die Unternehmen hier ein „Level Playing Field“gibt.
Dass Europa Vorreiter beim Klimaschutz sein will, darf nicht dazu führen, dass unser Stahl und unser Zement dann aus Ländern mit niedrigeren CO2-Quoten kommt, weil die billiger produzieren können. Auch das muss die Handelspolitik regeln.
Der Staat gibt gerade viel Geld aus, um die Folgen der Krise abzumildern. Erwarten Sie später Steuererhöhungen, um das zu finanzieren?
Es gibt ja keine 100 Möglichkeiten, um den Haushalt auszugleichen. Sozialausgaben und Funktionskosten kriegt die Politik erfahrungsgemäß schlecht gedrosselt. Entweder man kürzt dann die Investitionen und verzögert damit möglicherweise die Modernisierung des Landes. Oder man erhöht die Einnahmen. Die geplante Steuerreform ist ja aus nachvollziehbaren Gründen schon verschoben worden. Aber auch ohne Steuererhöhung muss man eins verstehen: Da Luxemburg sich verschiedenen Initiativen zur internationalen Steuerharmonisierung angeschlossen hat, erhöht sich jedes Jahr die Steuerbasis der Firmen, weil bestimmte Kosten nicht mehr abgeschrieben werden können. Das heißt, ohne eine Reform und entsprechende Erleichterungen, erhöht sich die Steuerlast automatisch. Um die Folgen der Krise abzumildern, wird leider zu wenig auf eine Beschleunigung der privaten Investitionsprojekte gesetzt. Allein im Bereich Wohnungsbau warten Hunderte Millionen Euro privates Geld im Verwaltungsstau darauf, ausgegeben zu werden. Bedauerlicherweise kommt die Trägheit des Genehmigungsmonsters hier voll zur Geltung. Die politischen Entscheidungsträger setzen in der Krise dann lieber auf noch höhere öffentliche Ausgaben, anstatt dieses private Investitionspotenzial zu befreien.