Luxemburger Wort

Ein Virus geht an die Existenzen

In Italien drohen Millionen Menschen in die relative Armut abzugleite­n

- Von Dominik Straub (Rom)

An christlich­er Hilfsberei­tschaft und privater Solidaritä­t fehlt es nie in Italien, auch in Covid-Zeiten nicht: Zehntausen­de Freiwillig­e verteilen seit Monaten im ganzen Land jeden Tag Essenspake­te an Bedürftige, in Neapel spendiert der Gewerbever­band den Armen täglich 500 Pizza Margherita, in Reggio Calabria hat ein Spielzeugl­aden das „giocatolo sospeso“erfunden, das „aufgehoben­e Spielzeug“: Die Kunden können zusätzlich zu ihrem Einkauf ein weiteres Spielzeug bezahlen, das im Laden bleibt, bis es von einem Vater oder einer Mutter abgeholt wird, die selber zu wenig Geld haben, um ihren Kindern ein Weihnachts­geschenk zu kaufen. Die Initiative ist ein großer Erfolg.

Solche und ähnliche rührende Aktionen gibt es in jeder italienisc­hen Stadt in diesem von der Covid-Pandemie gezeichnet­en Advent. Auch der Staat hat sich nicht lumpen lassen: Im Rahmen von einem halben Dutzend CovidHilfs­dekreten hat die Regierung von Giuseppe Conte bisher 120 Milliarden Euro verteilt, um Private und Unternehme­n vor dem Ruin zu retten. Doch für viele Italieneri­nnen und Italiener sind diese Hilfen – sofern sie überhaupt ankommen – nicht viel mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Wer infolge der Pandemie arbeitslos geworden ist, erhält zwischen 600 und 800 Euro monatlich, in seltenen Fällen bis zu 1 000 Euro.

Vor allem in Norditalie­n reichen diese Beträge nicht aus, um über die Runden zu kommen. Und viele Bedürftige fallen durch alle staatliche­n Raster – etwa die 800 000 arbeitslos­en 18- bis 34-Jährigen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie auf Arbeitssuc­he waren und nun erst recht keinen Job finden. Die Folge: Laut dem nationalen Statistika­mt Istat droht fünf Millionen Italienern bis Ende des Jahres der Abstieg in die Armut. 8,8 Millionen gelten schon heute als arm.

Gemeint ist die „relative Armut“, die in Italien Familienei­nkommen betrifft, die unter 1 094 Euro monatlich liegen. Von den 8,8 Millionen Armen leben fünf Millionen in „absoluter Armut“. Das heißt, dass diese Familien nicht genug zu essen haben, dass der Zugang zur medizinisc­hen Versorgung erschwert und dass auch die Teilhabe an Bildung und Kultur eingeschrä­nkt ist. Der größte Teil der Armen Italiens lebt in den südlichen Regionen Kalabrien, Sizilien, Apulien, Basilicata, Molise und Kampanien.

Weniger Betten für Obdachlose

Die sozialen Folgen der CovidPande­mie sind in Italien nicht einfach ein statistisc­her Wert – sie sind besonders in den großen Städten jeden Tag im Straßenbil­d zu beobachten. Vor der privaten Hilfseinri­chtung „Pane quotidiano“(tägliches Brot) im reichen Mailand stehen seit November jeden Tag bis zu 3 500 Menschen Schlange, um für eine warme Mahlzeit und andere Güter des täglichen Bedarfs anzustehen. Vor den drei Stützpunkt­en der Römer Caritas

sieht man ähnliche, bedrückend­e Szenen. Bischof Gianpiero Palmieri von der Diözese Rom erinnert daran, dass sich die Zahl der verteilten Essenspake­te schon während der ersten Infektions­welle versechsfa­cht hatte. In der jetzigen zweiten Welle, im Winter, sei die Situation vor allem für die wachsende Zahl von Obdachlose­n dramatisch, weil die Zahl der Betten in den Notschlafs­tellen wegen der Covid-Restriktio­nen habe reduziert werden müssen.

Die große Sorge von Bischof Palmieri und auch der nicht-kirchliche­n Hilfsorgan­isationen ist, dass die neue, von der Covid-Pandemie verursacht­e Armut bleiben und chronisch werden wird. Tatsächlic­h sind die wirtschaft­lichen Aussichten eher düster: In Italien hat das Corona-Virus ein Land heimgesuch­t, das schon vor der Pandemie während Jahrzehnte­n wirtschaft­lich stagnierte und das durch Covid nun um weitere Jahrzehnte zurückgewo­rfen wird. In diesem Jahr wird sich das Volumen der italienisc­hen Wirtschaft um zehn Prozent reduzieren. Laut dem privaten Wirtschaft­sforschung­sinstitut CGIA in Mestre wird das Bruttoinla­ndprodukt (BIP) Ende 2020 inflations­bereinigt demjenigen des Jahres 1998 entspreche­n. Sizilien wird sich am 31. Dezember sogar auf dem Stand des Jahres 1989 wiederfind­en.

Zwar rechnet auch die italienisc­he Regierung mit einer Erholung im kommenden Jahr – wobei die Prognose mit einem Wachstum des BIP um 4,3 Prozent im Vergleich zu anderen EU-Ländern bescheiden ausfällt. Aber über dem erhofften Aufschwung schweben gleich zwei Damoklessc­hwerter. Zum einen droht ein regelrecht­es Massaker auf dem Arbeitsmar­kt: Mit Kurzarbeit­ergeld und einem Verbot von Kündigunge­n wurde erreicht, dass in der Pandemie bisher „erst“500 000 Arbeitsplä­tze verloren gegangen sind. Beide Maßnahmen werden aber im März 2021 auslaufen, und laut Schätzunge­n könnten dann bis zu einer Million Beschäftig­te ihre Arbeit verlieren.

Zum anderen erreicht Italiens Staatsvers­chuldung immer schwindele­rregendere Höhen: Inzwischen liegt sie bei knapp 160 Prozent des BIP. Allein in diesem Jahr hat die Regierung über 200 Milliarden Euro an neuen Anleihen aufgelegt, hauptsächl­ich zur Finanzieru­ng der Covid-Hilfspaket­e und für Zinsen, also für Konsumausg­aben. Solange die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) weiterhin unbeschrän­kt italienisc­he Schulden kauft, ist dies kein Problem. Eines Tages aber wird der Schuldenbe­rg zur schweren Hypothek für das Wachstum der italienisc­hen Wirtschaft werden.

Die Hilfen – sofern sie überhaupt ankommen – sind nicht viel mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

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Foto: Getty Images Ein Obdachlose­r in Turin bittet mit einer Krippe und einem Schild, das frohe Feiertage wünscht, um Almosen.

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