Zuhören, trainieren, lernen
Hochspringer und Sportwissenschaftler Kevin Rutare ist Athletikcoach im Frauenfußball
Kevin Rutare scheint ein guter Sohn zu sein. Jedenfalls hat er die Ratschläge seiner Mutter Alphonsine beherzigt. „Sie war immer der Überzeugung, dass Bildung das Wichtigste ist. Man darf nicht aufhören, weiter zu lernen. Das hat sie ihren Kindern mitgegeben“, sagt der 29-Jährige. Rutare ist Sportler, Wissenschaftler, Lehrer, Trainer und immer offen für Neues. Der Austausch mit anderen ist ihm wichtig. Wie bei seiner Arbeit mit der Fußball-Nationalmannschaft der Frauen.
Seit Sommer ist der vielfache Luxemburger Meister im Hochsprung der Athletiktrainer der FLF-Frauen. „Kevins Kompetenzen bringen dem Frauenfußball sehr viel, da es in diesem Bereich große Defizite gibt. Um international mitzuhalten, muss man athletisch gut vorbereitet sein“, erklärt Nationaltrainer Dan Santos, der den aus der Leichtathletik kommenden Kollegen in sein Team holte.
Ende 2020 ist Rutare mit der FLF-Auswahl an einem ersten Etappenziel angekommen. „Wir haben seit August hauptsächlich an der Koordination, der Lauftechnik und der Schnelligkeit gearbeitet“, berichtet Rutare. In den Tagen vor Weihnachten fanden Leistungstests statt. Sprungkraft, Antritt und Ausdauer der Spielerinnen wurden überprüft – coronabedingt in Kleingruppen im Stadion in Beggen.
In den vergangenen Wochen verhinderte die Pandemie das normale Fußballtraining, trotzdem nutzten die Spielerinnen die Zeit sinnvoll. „In der aktuellen schwierigen Phase, in der das Fußballspielen zum Teil eingeschränkt war, konnten wir viel im athletischen Bereich arbeiten“, sagt Santos. Es gebe Fortschritte.
Beim Training muss Rutare häufig Kompromisse finden, damit seine Arbeit zu jener in den jeweiligen Vereinen passt. Die Spielerinnen sollen gefördert, aber nicht überfordert werden. „Wichtig ist, ihnen zuzuhören. Sie sind Menschen, keine Maschinen“, betont er.
Arbeit mit Leistungssportlern
Der noch junge Coach hat schon viel praktische Erfahrung, aber auch den wissenschaftlichen Hintergrund. Er hat im Rahmen seines Universitätsstudiums in Frankreich mit Leistungssportlern aus Leichtathletik, Basketball, Volleyball, Fechten, Hockey, Ringen und Wasserball gearbeitet. Rutare studierte in Lille Sportwissenschaften und war parallel im regionalen Zentrum für Hochleistungssport als Trainer tätig. Nach dem Masterabschluss absolvierte er dort noch ein Forschungsjahr. „Ich hatte früh die Chance, im Umfeld des Profisports mit den besten Trainern zu arbeiten.“
Er befasste sich wissenschaftlich mit der Frage, wie sich die Muskel-Sehnen-Härte dem Training anpasst. Anhand dieses Komplexes könne man erkennen, wie gut ein Athlet in Form ist und ob die Gefahr der Überlastung besteht, so Rutare. Wenn sich die Muskelkraft durch das Training zu schnell entwickle, sei die Widerstandsfähigkeit der Sehne nicht mehr ausgewogen angepasst. „Dadurch erhöht sich die Beanspruchung der Sehne, was zu Entzündungen führen kann.“
Das Modell aus seiner Forschungsarbeit nutzt Rutare noch heute als Grundlage, dazu kommen Faktoren wie Regeneration,
Ernährung oder Psychologie. „In allen Sportarten werden die Saisons immer länger und intensiver. Es geht heute nicht mehr darum, die Leistungsfähigkeit eines Athleten möglichst extrem auszubauen, sondern möglichst optimal“, sagt er. Trotz der wissenschaftlichen Basis sieht er sich eher als Mann der Praxis: „Das Wichtigste ist das Training, die Arbeit auf dem Platz mit den Menschen.“
Dazu hat er viel Gelegenheit. Rutare trainiert neben dem FLF-Team auch die Fußballfrauen des SC Bettemburg, mehrere Individualsportler sowie vor allem Kinder und Jugendliche in seinem Hauptberuf als Sportlehrer am Lycée.
Flucht aus Ruanda
Die akademische Karriere ist angesichts seiner Lebensgeschichte eine besondere Leistung. Rutares Familie stammt aus Ruanda und hat Furchtbares erlebt. Sein Vater, ein Architekt, kam im Bürgerkrieg in dem ostafrikanischen Land ums Leben. Als Kevin drei Jahre alt war, flüchtete die Mutter mit drei Kleinkindern vor dem Völkermord aus der Hauptstadt Kigali nach Luxemburg, wohin der Vater berufliche Verbindungen hatte.
Im Flüchtlingsheim begann ein neues Leben. Alphonsine Rutare, studierte Biologin, lernte Luxemburgisch und Deutsch, fand eine geregelte Arbeit. „Sie musste wieder bei Null anfangen. Was sie geschafft hat, gelingt nicht vielen Menschen“, sagt der Sohn.
Er selbst hat keine Erinnerungen an Ruanda. „Luxemburg ist meine Heimat“, so Rutare. Er kennt die Vorurteile, denen Menschen mit dunkler Hautfarbe ausgesetzt sind, aus eigener Erfahrung. Doch er geht gelassen damit um: „Grundsätzlich ist Luxemburg ein tolerantes Land. Das merkt man vor allem, wenn man länger im Ausland gelebt hat.“
Seit der Kindheit ist Rutare Mitglied im Leichtathletikverein CA Beles. Übermäßig talentiert sei er nicht, meint er. Doch er habe gemerkt, dass sich Trainingsfleiß lohnt. 2,18 m ist seine Bestleistung im Hochsprung. Von 2008 bis 2016 war er sechs Mal nationaler Meister (Outdoor), von 2010 bis 2017 gewann er fünf Mal den Hallentitel. Bei den Spielen der kleinen europäischen Staaten holte er drei Mal Bronze. Sein größter Wettkampf war die Universiade 2017 in Taiwans Hauptstadt Taipeh, wo er das Finale knapp verpasste.
Er ist weiterhin selbst Sportler, auch wenn er mittlerweile überwiegend andere trainiert. Durch die internationalen Wettkämpfe und die Arbeit im Ausland hat Rutare viele Kontakte geknüpft. „Da sind Freundschaften entstanden, wir treffen uns immer noch zu gemeinsamen Trainingslagern.“Der Austausch mit anderen ist ihm wichtig. Er will weiter lernen.
Sie musste wieder bei Null anfangen. Was sie geschafft hat, gelingt nicht vielen Menschen. Kevin Rutare über seine Mutter