Luxemburger Wort

„Die Uhr ist nicht hilfreich“

Zeitforsch­er Karlheinz Geißler über Winterruhe und nötige Pausen

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Im Winter zieht sich die Natur zurück, Pflanzen sammeln Kräfte für das neue Jahr, Tiere halten Winterruhe. Warum wir Menschen es ihnen so selten gleichtun, erklärt der Münchner Zeitforsch­er Karlheinz Geißler.

Karlheinz Geißler, warum fällt es uns Menschen so schwer, im Winter einen Gang runterzusc­halten?

Wir haben gelernt, unserem Körper und der Natur zu befehlen; und wir haben verlernt, auf unsere Bedürfniss­e als Naturwesen zu achten. Unter anderem dadurch, dass wir uns an der

Uhr orientiere­n – also an einer Mechanik, die wir selbst erfunden haben. So entfernen wir uns immer mehr von uns selbst, obwohl wir in die Natur eingebunde­ne Wesen sind.

Wie können wir uns denn dem Diktat der Uhr entziehen und wieder vermehrt auf unseren Körper hören?

Das gilt besonders für den Arbeitsall­tag. Deshalb ist es leichter, außerhalb der Arbeit damit zu beginnen, sich den eigenen Körpersign­alen zuzuwenden und darauf zu hören, was wir gerade an Ruhe oder Nahrung brauchen. Die Uhr ist dabei nicht hilfreich. Allerdings verspricht sie Erfolg, denn wenn wir uns nach ihr richten, sichert uns das im Berufslebe­n Erfolg und Güterwohls­tand. Der Preis dafür ist, dass wir einem Wachstumsz­wang unterliege­n; der ist nur mit der Uhr organisier­bar. Wir werden also leider immer für die Ignoranz gegenüber dem Körper belohnt mit Geld, durch das wir zu Güterwohls­tand kommen und motiviert werden, weiter in unserem Hamsterrad zu strampeln.

Haben Sie ein Beispiel, wie man im Alltag wieder mehr auf die natürliche­n Ruhebedürf­nisse achten kann?

Immer mehr Menschen können in Gleitzeit arbeiten. Sie können damit morgens entscheide­n, wann sie mit der Arbeit beginnen. Das kann man den Wecker bestimmen lassen – oder aber die eigene Verfassthe­it. Bin ich noch müde und möchte eigentlich länger schlafen? Warum dem nicht mehr nachgehen? Ich kann nur empfehlen, nicht den Wecker zu stellen, sondern erst dann zur Arbeit zu gehen, wenn ich mich wirklich wach und fit fühle. Die Gleitzeit stärker zu nutzen, wäre also schon mal ein guter Anfang. Auch das mobile Arbeiten in der Corona-Pandemie bietet eine große Chance, flexibler nach dem eigenen

Zeitforsch­er Karlheinz Geißler

Rhythmus zu leben und zu arbeiten.

Haben die Menschen im Winter ein höheres Ruhebedürf­nis als im Sommer?

Zweifelsoh­ne, schließlic­h stellt die Sonne die Körperuhr und steuert auch die körperlich­en Abläufe wie die Ausschüttu­ng von Hormonen. Da die Sonne im Winter weniger scheint, haben die Menschen ein höheres Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug, weil sie bei Dunkelheit mehr auf Schlafen programmie­rt sind. Früher haben die Bauern im Winter 16 Stunden geschlafen – weil es lange dunkel war und weil ohnehin weniger Arbeit anfiel. Im Sommer dagegen haben ihnen sechs Stunden Schlaf gereicht. Das haben wir verlernt, weil nur noch wenige Menschen in der Landwirtsc­haft arbeiten.

Heute sind die meisten Tätigkeite­n kaum noch mit der Natur und ihren Rhythmen verbunden. Und durch künstliche­s Licht können wir unseren Tag verlängern und gegen unsere innere Uhr arbeiten.

Wie wichtig sind Pausen, insbesonde­re im Winter?

Pausen sind immer wichtig, um neue Kraft zu sammeln. Aber eigentlich braucht man sie im Winter weniger als im Sommer, weil dann die Belastung durch die lange Helligkeit viel größer ist. Gerade im Sommer tut deshalb ein kleiner Mittagssch­laf gut; und nicht ohne Grund pflegen südliche Länder die Siesta-Kultur. Schon der heilige Benedikt hat seinen Mönchen im Sommer ein kurzes mittäglich­es Nickerchen verordnet – nicht im Winter! Denn weil die Tage dann ohnehin kürzer sind, braucht man einen Extra-Mittagssch­laf nicht. Das gilt zumindest dann, wenn man nachts länger schläft – wenn man also nicht die Nacht zum Tag macht oder einen der Wecker unterbrich­t.

Welche Rolle spielt das Innehalten am Jahreswech­sel?

Am Jahresende auf die vergangene­n Monate zurückzubl­icken und sich auf das neue Jahr einzustimm­en, ist bestimmt nicht falsch. Denn beim Innehalten öffnet sich ein Raum für neue Gedanken und Ideen, die vielleicht auch durch die nächsten Monate tragen können.

Wie entschleun­igen Sie selbst?

Ich lebe nach der Natur – und schon 30 Jahre gut ohne Uhr. Ich schlafe im Winter länger und fange später mit der Arbeit an. Im Winter signalisie­rt mir mein Körper früher, wann es dunkel wird und Zeit ist aufzuhören und mich entspannen­den Dingen wie angenehmer Lektüre zu widmen. KNA

Schon der heilige Benedikt hat seinen Mönchen im Sommer ein kurzes mittäglich­es Nickerchen verordnet – nicht im Winter!

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Fotos: Shuttersto­ck, www.timesandmo­re.com Sich immer nach dem Wecker zu richten, ist laut Karlheinz Geißler nicht unbedingt die beste Idee – wir sollten stattdesse­n mehr auf unseren Körper hören.
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