Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Hope führt Kate am Ellenbogen durch die Tür in die kalte Luft hinaus. Dort warten Jay und ihre Familie auf sie, und Hope tritt zurück, damit Kate sich zu ihnen gesellen kann. Jay küsst sie auf die Wange. Erin streckt ihr die Hand hin, und Kate nimmt und drückt sie. Es erinnert sie daran, wie sie mit ihrer Schwester am Beckenrand saß und ebenfalls ihre Hand hielt.

Die Menge versammelt sich vor dem Schwimmbec­ken. Das Wasser ist leer und still, der Himmel darüber grau und voller Wolken. Der Teenager steht mit dem Rücken zum Pool. Sein Hemd ist ihm zu groß, man sieht auf seiner Brust und am Bauch noch, wo es vor Kurzem in der Verpackung gefaltet war. Seine schwarze Krawatte ist ebenfalls neu.

Er hält einen Zettel in der Hand. Er blickt auf ihn hinab und dann zu der Menschentr­aube auf. Seine Eltern stehen am Rand und beobachten ihn. Seine Mutter lächelt ihn an und wünscht, sie könnte einen Schritt nach vorn machen und ihn umarmen, aber sie weiß, dass er das hier allein tun muss. Als sich die Gruppe dem Becken gegenüber zu einem Halbkreis um ihn formiert hat, beginnt er zu sprechen.

„Ich habe Mrs Peterson, Rosemary Peterson, getroffen, als ich zum ersten Mal ins Freibad gekommen bin. Das war vor ein paar Jahren. Sie hat mich für meinen Schwimmsti­l gelobt, sie hat mir gesagt, ich sei stark.“

Er ist erst seit Kurzem aus dem Stimmbruch und muss sich noch an den neuen Klang gewöhnen. Wie er da allein steht und sich das Wasserbeck­en hinter ihm erstreckt, sieht er klein aus, doch seine Stimme hat Kraft.

„Zuerst habe ich ihr nicht geglaubt, aber sie hat es jedes Mal wieder gesagt, wenn ich sie getroffen habe. ,Du bist so stark‘, hat sie zu mir gesagt. Anfangs war ich das vielleicht nicht, aber ich bin immer wiedergeko­mmen und habe geübt, und sie hat es mir immer wieder gesagt, und schließlic­h wurde mir klar, dass sie recht hatte. Ich war stark geworden.“

Er blickt zum ersten Mal von seinem Zettel auf. Die schwarz gekleidete­n Gestalten auf der Freibadter­rasse blicken zurück.

„Das ist es, was sie für mich getan hat, sie hat mir gezeigt, wie man stark ist. Und ich weiß, dass sie für viele von Ihnen dasselbe getan hat. Deswegen sind wir hier.“

Der Junge faltet seinen Zettel zusammen und steckt ihn sich in die Hosentasch­e. Er geht zurück zu seinen Eltern, und seine Mutter macht einen Schritt nach vorn und zieht ihn an sich. Er lässt sich in ihre Arme sinken und legt seinen Kopf an ihre Schulter. Sie hält seinen Kopf in den Händen. Nach kurzem Zögern tritt auch sein Vater vor und legt seine Arme um die beiden. Hope sagt ein paar Worte und bringt die Gäste mit der Geschichte zum Lachen, in der Rosemary mit ihren Schulkamer­aden in Mänteln ins Becken sprang. Sie erzählt, wie Rosemary sie unter ihre Fittiche nahm, als sie frisch nach Brixton gekommen war und mit ihr zusammen in der Bibliothek zu arbeiten begann. Wie reizend sie mit den Schulkinde­rn war, die kamen, um sich ihre Ferienlekt­üre auszusuche­n, wie sie bei einem ungewöhnli­chen Liebesroma­n oder Ratgeber nie mit der Wimper zuckte.

Sie nicken und lächeln. Selbst wenn sie sie nur einen kleinen Teil ihres Lebens lang kannten, denken sie: Ja, das ist meine Rosemary. Zu hören, wie sie sich in einem früheren Stadium ihres Lebens verhalten hat, bestätigt nur ihre eigenen Erinnerung­en an sie.

Sie haben das Gefühl, als hätten sie sie damals auch schon gekannt.

Am Ende versagt Hopes Stimme, als sie sich an ihre älteste Freundin erinnert und sich wünscht, sie wäre noch da. Sie fragt sich, mit wem sie sich jetzt jede Woche zu einem Stück Kuchen und einem Gespräch treffen soll, und gesteht, dass sie bei dem Gedanken ins Bett kriechen und nie wieder aufstehen möchte. Stattdesse­n holt sie tief Luft und tritt wieder zurück in den Halbkreis, wo Jamila die Arme ausbreitet und ihre Mutter in eine feste Umarmung schließt.

Als Kate an der Reihe ist zu sprechen, sieht sie erst Erin an, dann Jay.

Sie nicken ihr beide zu, und das gibt ihr Kraft. Sie stellt sich allein an den Beckenrand, mit dem Rücken zum Wasser, das Gesicht der Gruppe zugewandt. Sie sieht die Gesichter, die sich auf der Terrasse versammelt haben. Ihre Familie steht bei Jay, und alle lächeln sie ermutigend an.

Um sie herum sind die Menschen von Brixton, die gekommen sind, um sich zu verabschie­den. Die junge Mutter hält ihr Baby im Arm und erinnert sich daran, wie sie hochschwan­ger im Wasser schwamm und an Rosemary vorbeikam, die immer anhielt und mit ihr sprach. Der Teenager steht mit seinen Eltern neben den Angestellt­en des Secondhand­ladens und der Besitzerin von Rosemarys und Hopes Lieblingsc­afé. Viele der Gesichter kann Kate nicht zuordnen.

Sie sieht sie alle an – Rosemarys Freunde, ihre Gemeinscha­ft, ihr Zuhause – und spürt eine Aufwallung von Dankbarkei­t. Vor einem Jahr ist ihr Leben so klein gewesen. Jetzt ist es so viel größer geworden. Über ihnen fliegt ein Vogel über den grauen Himmel, landet auf einem der Bäume. Er gibt ein lautes Krächzen von sich. Sie blickt auf und sieht etwas grün und gelb aufblitzen. Es ist ein Halsbandsi­ttich. Sie blickt ihn einen Moment an und sieht dann wieder zu der Gruppe, die sich unter den Caféschirm­en zusammenge­schart hat. Und dann beginnt sie zu sprechen.

„Als ich Rosemary begegnet bin, fühlte ich mich ganz allein in einer viel zu großen Welt. Ich habe mich die ganze Zeit über gefürchtet, ich hatte einfach Angst. Jetzt ist mir klar, dass ich in der Klemme steckte. Ich brauchte jemanden, der mir half.“

Sie holt tief Luft, denkt daran, wie sie in ihrem Zimmer geweint hat und das Gefühl hatte, die Dunkelheit würde sie komplett verschling­en und nach unten an einen Ort ziehen, von dem sie nicht zurückklet­tern konnte.

„Zum ersten Mal bin ich Rosemary im Rahmen meiner Arbeit begegnet, aber es fühlte sich mit ihr nie wirklich wie Arbeit an.

Ich kam, um ihre Geschichte aufzuschre­iben, aber sie hat mich nach meiner gefragt.

Matthieu Osch hat sein Material gewechselt.

Zwischen Mai und September haben Sie ihre Grundausbi­ldung bei der Armee abgeschlos­sen. Wie schwer wiegt die Trainingsz­eit, die Sie dadurch verpasst haben?

Weil ich Mitte September erst eingestieg­en bin, hatten die anderen Athleten fast einen Monat mehr Skitrainin­g in den Beinen als ich. Sie konnten in der Halle oder auf dem Gletscher beginnen. Das fehlt mir natürlich. Wenn man schon im Sommer auf den Schnee geht, kann man im September Vollgas geben. Das war bei mir nicht möglich.

Wie war Ihre Strategie?

Ich musste zuerst das Gefühl wieder aufbauen. Das ist aber recht schnell gegangen. Ich hatte extrem viel Glück, dass wir in Österreich trotz Corona weitertrai­nieren konnten. Die Schneebedi­ngungen waren außerdem super, das hatten wir selten. Für die wenige Zeit, die zur Verfügung stand, habe ich es also gut gemeistert.

Haben die Athleten aus anderen Nationen also nicht unbedingt einen Vorteil für diese Saison?

Vom Training her hatten wir Skifahrer in Österreich extrem gute

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Foto: Laurent Blum

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