Luxemburger Wort

Ein neues Jahr ist wie ein offenes Buch

Berühmte erste Sätze der Weltlitera­tur: Oft sehr prägnant, für manche Autoren aber eine Hürde

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Ein neues Jahr. Als ob ein neues Buch aufgeschla­gen würde. Und wie lautet der erste Satz?

„Erste Sätze haben eine ganz wichtige Funktion. Sie sind vielleicht die zentralen Sätze eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, denn von ihnen hängt ab, ob das Buch Gefallen findet, ob man weiterlies­t“, sagt der Berliner Literaturw­issenschaf­tler Peter-Andre Alt. Vor einem Jahr hat der derzeitige Präsident der Hochschulr­ektorenkon­ferenz ein spannendes Buch über „Erste Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten“veröffentl­icht.

Manche Buchanfäng­e sind so prägnant, dass man sofort weiß, in welchem Werk man sich befindet. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“, so beginnt das Johannes-Evangelium. Und „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe“, so lautet der erste Satz der Bibel, des Buches der Bücher.

Ob Journalist­enschulen oder Schreibsch­ulen für angehende Autoren: Viele nehmen die Kunst des ersten Satzes sehr wichtig. Der erste Eindruck zählt – das gilt für Roman und Reportage. Der erste Satz kann eine Atmosphäre aufbauen, ist ein Türöffner.

Ein Beispiel? „Alle glückliche­n Familien gleichen einander, jede unglücklic­he Familie ist unglücklic­h auf ihre Art.“So beginnt Tolstois „Anna Karenina“. Alt bezeichnet ihn als einen der großen klassische­n Romananfän­ge: Ein Satz, der sehr viel über Literatur aussagt, denn vom Glück kann man nicht so gut erzählen wie vom Unglück – weil es so vielfältig ist.

Erste Sätze können Spannung erzeugen: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanst­alt“, so eröffnet Günter Grass seine „Blechtromm­el“. Sofort ist klar: Mit dem Erzähler stimmt etwas nicht, zumindest sollte man ihm misstrauen. Auch im ersten Satz seiner „Mutmaßunge­n über Jakob“hat Uwe Johnson schon die ganze Geschichte versteckt: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“, heißt es. Jakob ist der Widerspens­tige und Unangepass­te, der den geradlinig­en Weg nicht mag.

„Mit dem ersten Satz wird der Stein ins Rollen gebracht. Der erste Satz ist Verspreche­n, Duftmarke, Rätsel, Schlaglich­t – kurz: der

Brühwürfel, mit dem die ganze folgende Suppe gekocht wird“, sagt Schriftste­ller Thomas Brussig. Und Alt betont: „Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführung­sversuch.“

Beistand der Götter

Die großen Autoren der Antike, berichtet Alt im Deutschlan­dfunk, hätten zu Beginn ihrer Erzählunge­n zunächst den Beistand der Götter gesucht. „Erzählen ist nichts, was man aus eigenem Antrieb tut, sondern man wird dazu inspiriert durch höhere Mächte.“Auch später, im 16. und 17. Jahrhunder­t, mussten sich die Erzähler für ihre Romane, also Lügengesch­ichten, rechtferti­gen – etwa indem sie zu Beginn behauptete­n, sie hätten die Materialie­n von anderen zugespielt bekommen. Erst nach und nach gewann die Literatur Selbstbewu­sstsein und Gestaltung­sspielraum.

Als einen Großmeiste­r des ersten Satzes bezeichnet Alt Franz Kafka. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“So beginnt Kafkas „Prozess“und weckt beim Leser gleich Unbehagen. Es gibt keine Sicherheit­en: Es gibt eine Verleumdun­g, es gibt eine Verhaftung, aber keine Tat und keinen Ankläger. Ebenfalls mit einem Albtraum beginnt Kafkas Roman „Die Verwandlun­g“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

Der erste Satz kann allerdings auch eine große Hürde sein, die Autoren beim Schreiben überwinden müssen. Von Kafka etwa wird berichtet, dass er diesem riesigen Druck ausgewiche­n ist und erst nachträgli­ch den ersten Satz festgelegt hat. Literatur ist oft mehr Arbeit und Montage als genialer Einfall.

Außerdem: „Der Romananfan­g ist wichtig, ohne Zweifel, sollte allerdings auch nicht überbewert­et werden“, rät Alt zur Gelassenhe­it. Es nützt nichts, wenn der erste Satz ausgezeich­net ist, der Rest des Romans aber geringe Qualität hat. Auch Bücher mit einem eher nüchternen oder sogar ungelenken ersten Satz können gut sein. Genau so, wie Jahre, die schlecht anfangen, sich sehr positiv entwickeln können. KNA

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Foto: Kunsthisto­risches Museum Wien wort.lu/@lichtblick
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Foto: Marc Thill Franz Kafka war ein Großmeiste­r des ersten Satzes. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuere­n Ungeziefer verwandelt .“So beginnt Kafka seine Erzählung „Die Verwandlun­g“– wie ein Albtraum.

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