Der rote Judas
2
Im Morgenmantel stand Jagoda am Fenster und schaute auf den Park hinunter, als die Visite das Zimmer stürmte.
Der Chefarzt erinnerte ihn an seinen Vater, schon seit er ihn nach der Einweisung in der Tobsuchtzelle untersucht hatte. Nicht weil er ihm besonders ähnlich sah, sondern weil Jagoda jedes Mal Hoffnung schöpfte, wenn der grauhaarige Aristokrat mit dem kaiserlichen Schnauzbart den Tross aus Assistenzärzten, Schwestern und Medizinstudenten hereinführte.
„Guten Abend, Herr Jagoda.“Der Arzt reichte ihm die Hand.
„Ihr letzter Tag bei uns?“Jagoda ergriff sie und nickte. „Wie geht es uns denn?“
„Bestens, Herr Professor.“Der Mann im Nachbarbett grunzte und riss an seinen Gurten, auf der anderen Zimmerseite glotzte der Kerl mit den Zuckungen stumm herüber, und der mit den Krämpfen kicherte blöde.
Der Chefarzt musterte Jagoda prüfend, bevor er seine Hand freigab. „Dann wollen wir doch noch ein letztes Mal schauen.“Er legte sein Stethoskop an und bedeutete Jagoda, sich auf die Bettkante zu setzen. Die Schwester half ihm aus dem Morgenmantel, der Chefarzt hörte ihn ab. „Alpträume?“, fragte er hinterher, während er sich die
Stethoskopbügel wieder um den Hals klemmte.
„Schon lange nicht mehr“, log Jagoda.
„Sehr gut. Gucken Sie mich bitte an.“Mit einem Wattestäbchen fuhr der Chefarzt ihm von den Unterlidern aus über die Hornhäute und registrierte befriedigt den Lidreflex. Er sprach ein paar lateinische Worte zu seinem Tross, bevor er mit Finger und Hämmerchen den Mundreflex prüfte. „Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Schule denken, Herr Gymnasialprofessor?“
„Gut. Ich freue mich auf die Arbeit.“Plötzlich krachte der Tisch gegen die Wand. Der Kicherer riss sich die Decke über den Kopf, der Grunzer schrie auf, Jagoda aber blieb ruhig. Kein Zusammenschrecken, kein unterdrückter Schrei, nicht einmal ein Zucken – er sah nur interessiert zu dem Assistenzarzt hin, der gegen das Tischbein getreten hatte. Der beobachtete ihn, alle beobachteten ihn, und der Chefarzt nickte befriedigt.
„Gestern in der Frühe hat die Elektrische direkt vor der Klinik ein Kohlefuhrwerk gerammt.“Der Chefarzt ging vor seinem Bett in die Hocke und prüfte Jagodas Knie- und Fußreflexe. „War gewaltig laut. Sind Sie sehr erschrocken?“
„Ich habe nur die Nachtigall im Klinikgarten singen gehört.“
„Nervtötend, nicht wahr?“Der Chefarzt murmelte ein paar lateinische Brocken in die Richtung seiner Gefolgschaft, erhob sich dann und schaute zu Jagodas Nachttisch,
wo ein Gedichtband des Leipziger Inselverlages auf zwei Schillerdramen lag.
„Oh! Wenden Sie sich jetzt unseren zeitgenössischen Dichtern zu, Herr Gymnasialprofessor?“
„Ich kann meinen Schülern ja nicht ständig mit Goethe, Klopstock und Hölderlin kommen, Herr Professor.“
Der Chefarzt griff nach dem oberen Buch. „Jetzt also Rilke“, murmelte er, blätterte, las und trug schließlich einen Vers vor: „,Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.‘“Er drehte sich nach seinen Assistenten und Studenten um, die bis vor vierzehn Monaten alle noch an der Front gewesen waren. „Haben Sie das gehört, meine Herren?“Die Männer guckten nur, und das ziemlich betreten.
„Bin ich geheilt, Herr Professor?“Jagoda atmete plötzlich schneller und musste sogar schlucken. Er hoffte, der Arzt würde es nicht merken.
„Das will ich meinen.“Der Chefarzt legte das Buch zurück.
„Vergessen Sie, was hinter Ihnen liegt, und schauen Sie nach vorn, verstanden?“Lächelnd reichte er ihm die Hand. „Leben Sie wohl, Herr Jagoda. Ich will Sie nicht mehr hier sehen, ist das klar?“
Erleichtert ließ Jagoda später die Abteilung hinter sich, erleichtert trug er seinen kleinen Koffer durch die Eingangshalle auf die Pforte zu.
Ein Einarmiger hockte auf einer Bank im Wartebereich und schaute schnell in seine Zeitung, als ihre Blicke sich trafen. Doch nicht deswegen fiel der Mann ihm auf, sondern weil ein Eisernes Kreuz I. Klasse an seinem schwarzen Mantel glänzte.
Jagoda selbst hatte seine Orden zu Hause in der Kommode versteckt, nachdem aufgebrachte Passantinnen sie ihm im Dezember 1918 samt Schulterstücken von der Jacke gerissen hatten. Leipzig, diese Brutstätte von Unruhe und Sozialismus, hatte seine Kriegsheimkehrer – seine Kriegsverlierer – besonders undankbar empfangen.
„Schon Ihr letzter Tag heute, Herr Oberstleutnant Jagoda?“Der Pförtner trat aus seiner Loge und stand stramm; sie kannten sich vom Flandernfeldzug. „Freut mich für Sie, Herr Oberstleutnant!“Der Mann war ihm peinlich, denn nicht nur, dass er stramm stand – er sprach auch noch so laut, dass nun wirklich jeder im Wartebereich seinen ehemaligen militärischen Rang kannte. „Hat Ihre Schwester für Sie abgegeben.“Der Pförtner reichte ihm zwei Kuverts. „Außerhalb der Besuchszeit.“Jagoda steckte die Briefe ein und verabschiedete sich.
Draußen sah er die Elektrische nicht weit vor der Einfahrt zur Nervenklinik halten, die Linie 2 zum Hauptbahnhof. Einen Augenblick zögerte er, dann ging er doch zu den wartenden Kraftdroschken.
Der Regen klatschte ihm ins Gesicht, die Friedhofsstimmung sickerte ihm ins Gemüt. „Hauptbahnhof“, rief er dem Fahrer zu und stieg in den Fahrgastraum hinauf.
Als sie am Eingang vorbeirollten, sah er den Einarmigen aus der Tür treten. Ein untersetzter Mann in feldgrauem Mantel und mit schwarzer lederner Schildkappe folgte ihm, ein zweiter in Fliegerjacke und mit Wollmütze hielt ihm die Tür auf. Alle drei blickten seinem Wagen hinterher. Jagoda stutzte. Kannten sie ihn?
Noch als die Droschke längst über die Windmühlenstraße in Richtung Innenstadt tuckerte, gingen ihm die drei Männer durch den Kopf – ihre starren, ausdruckslosen Mienen hatten ihm nicht gefallen.