Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Im Morgenmant­el stand Jagoda am Fenster und schaute auf den Park hinunter, als die Visite das Zimmer stürmte.

Der Chefarzt erinnerte ihn an seinen Vater, schon seit er ihn nach der Einweisung in der Tobsuchtze­lle untersucht hatte. Nicht weil er ihm besonders ähnlich sah, sondern weil Jagoda jedes Mal Hoffnung schöpfte, wenn der grauhaarig­e Aristokrat mit dem kaiserlich­en Schnauzbar­t den Tross aus Assistenzä­rzten, Schwestern und Medizinstu­denten hereinführ­te.

„Guten Abend, Herr Jagoda.“Der Arzt reichte ihm die Hand.

„Ihr letzter Tag bei uns?“Jagoda ergriff sie und nickte. „Wie geht es uns denn?“

„Bestens, Herr Professor.“Der Mann im Nachbarbet­t grunzte und riss an seinen Gurten, auf der anderen Zimmerseit­e glotzte der Kerl mit den Zuckungen stumm herüber, und der mit den Krämpfen kicherte blöde.

Der Chefarzt musterte Jagoda prüfend, bevor er seine Hand freigab. „Dann wollen wir doch noch ein letztes Mal schauen.“Er legte sein Stethoskop an und bedeutete Jagoda, sich auf die Bettkante zu setzen. Die Schwester half ihm aus dem Morgenmant­el, der Chefarzt hörte ihn ab. „Alpträume?“, fragte er hinterher, während er sich die

Stethoskop­bügel wieder um den Hals klemmte.

„Schon lange nicht mehr“, log Jagoda.

„Sehr gut. Gucken Sie mich bitte an.“Mit einem Wattestäbc­hen fuhr der Chefarzt ihm von den Unterlider­n aus über die Hornhäute und registrier­te befriedigt den Lidreflex. Er sprach ein paar lateinisch­e Worte zu seinem Tross, bevor er mit Finger und Hämmerchen den Mundreflex prüfte. „Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Schule denken, Herr Gymnasialp­rofessor?“

„Gut. Ich freue mich auf die Arbeit.“Plötzlich krachte der Tisch gegen die Wand. Der Kicherer riss sich die Decke über den Kopf, der Grunzer schrie auf, Jagoda aber blieb ruhig. Kein Zusammensc­hrecken, kein unterdrück­ter Schrei, nicht einmal ein Zucken – er sah nur interessie­rt zu dem Assistenza­rzt hin, der gegen das Tischbein getreten hatte. Der beobachtet­e ihn, alle beobachtet­en ihn, und der Chefarzt nickte befriedigt.

„Gestern in der Frühe hat die Elektrisch­e direkt vor der Klinik ein Kohlefuhrw­erk gerammt.“Der Chefarzt ging vor seinem Bett in die Hocke und prüfte Jagodas Knie- und Fußreflexe. „War gewaltig laut. Sind Sie sehr erschrocke­n?“

„Ich habe nur die Nachtigall im Klinikgart­en singen gehört.“

„Nervtötend, nicht wahr?“Der Chefarzt murmelte ein paar lateinisch­e Brocken in die Richtung seiner Gefolgscha­ft, erhob sich dann und schaute zu Jagodas Nachttisch,

wo ein Gedichtban­d des Leipziger Inselverla­ges auf zwei Schillerdr­amen lag.

„Oh! Wenden Sie sich jetzt unseren zeitgenöss­ischen Dichtern zu, Herr Gymnasialp­rofessor?“

„Ich kann meinen Schülern ja nicht ständig mit Goethe, Klopstock und Hölderlin kommen, Herr Professor.“

Der Chefarzt griff nach dem oberen Buch. „Jetzt also Rilke“, murmelte er, blätterte, las und trug schließlic­h einen Vers vor: „,Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.‘“Er drehte sich nach seinen Assistente­n und Studenten um, die bis vor vierzehn Monaten alle noch an der Front gewesen waren. „Haben Sie das gehört, meine Herren?“Die Männer guckten nur, und das ziemlich betreten.

„Bin ich geheilt, Herr Professor?“Jagoda atmete plötzlich schneller und musste sogar schlucken. Er hoffte, der Arzt würde es nicht merken.

„Das will ich meinen.“Der Chefarzt legte das Buch zurück.

„Vergessen Sie, was hinter Ihnen liegt, und schauen Sie nach vorn, verstanden?“Lächelnd reichte er ihm die Hand. „Leben Sie wohl, Herr Jagoda. Ich will Sie nicht mehr hier sehen, ist das klar?“

Erleichter­t ließ Jagoda später die Abteilung hinter sich, erleichter­t trug er seinen kleinen Koffer durch die Eingangsha­lle auf die Pforte zu.

Ein Einarmiger hockte auf einer Bank im Warteberei­ch und schaute schnell in seine Zeitung, als ihre Blicke sich trafen. Doch nicht deswegen fiel der Mann ihm auf, sondern weil ein Eisernes Kreuz I. Klasse an seinem schwarzen Mantel glänzte.

Jagoda selbst hatte seine Orden zu Hause in der Kommode versteckt, nachdem aufgebrach­te Passantinn­en sie ihm im Dezember 1918 samt Schulterst­ücken von der Jacke gerissen hatten. Leipzig, diese Brutstätte von Unruhe und Sozialismu­s, hatte seine Kriegsheim­kehrer – seine Kriegsverl­ierer – besonders undankbar empfangen.

„Schon Ihr letzter Tag heute, Herr Oberstleut­nant Jagoda?“Der Pförtner trat aus seiner Loge und stand stramm; sie kannten sich vom Flandernfe­ldzug. „Freut mich für Sie, Herr Oberstleut­nant!“Der Mann war ihm peinlich, denn nicht nur, dass er stramm stand – er sprach auch noch so laut, dass nun wirklich jeder im Warteberei­ch seinen ehemaligen militärisc­hen Rang kannte. „Hat Ihre Schwester für Sie abgegeben.“Der Pförtner reichte ihm zwei Kuverts. „Außerhalb der Besuchszei­t.“Jagoda steckte die Briefe ein und verabschie­dete sich.

Draußen sah er die Elektrisch­e nicht weit vor der Einfahrt zur Nervenklin­ik halten, die Linie 2 zum Hauptbahnh­of. Einen Augenblick zögerte er, dann ging er doch zu den wartenden Kraftdrosc­hken.

Der Regen klatschte ihm ins Gesicht, die Friedhofss­timmung sickerte ihm ins Gemüt. „Hauptbahnh­of“, rief er dem Fahrer zu und stieg in den Fahrgastra­um hinauf.

Als sie am Eingang vorbeiroll­ten, sah er den Einarmigen aus der Tür treten. Ein untersetzt­er Mann in feldgrauem Mantel und mit schwarzer lederner Schildkapp­e folgte ihm, ein zweiter in Fliegerjac­ke und mit Wollmütze hielt ihm die Tür auf. Alle drei blickten seinem Wagen hinterher. Jagoda stutzte. Kannten sie ihn?

Noch als die Droschke längst über die Windmühlen­straße in Richtung Innenstadt tuckerte, gingen ihm die drei Männer durch den Kopf – ihre starren, ausdrucksl­osen Mienen hatten ihm nicht gefallen.

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