Der Ärger geht viral
Die Pandemie wird ein Instrument für den deutschen Wahlkampf
Natürlich starrt Deutschland nach Berlin. Dort wird schließlich an diesem Dienstag – wieder einmal – die nächste Zukunft der Republik verhandelt. Pandemiemäßig. Es könnte auf Verschärfung des ja bereits verschärften Lockdown hinauslaufen. Die „Süddeutsche“, Leib- und Magenblatt der eher Liberalen und Linken und Gebildeten und Bürgerlichen, hat am Morgen auf ihrer Kommentarseite „neue Ideen fürs neue Jahr“gefordert. Und „differenzierte, kreative Lösungen und Lockerungen“. Es sieht aber nach dem ganzen Gegenteil aus.
Am Morgen türmt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verbale Asche auf sein Haupt. „Sehr getäuscht“habe er sich mit seiner Vorstellung, „das Virus macht einen Bogen um Thüringen“. Seit Wochen wird dort die – nach Sachsen – zweithöchste Sieben-Tage-Inzidenz gemessen; aktuell 267,5. Jetzt erzählt Ramelow, der Bekehrte, von Unvernünftigen in der Bevölkerung, von Unwilligen in seinem Kabinett und von Impfverweigerern ausgerechnet beim Klinikpersonal. Und kündigt an, er wolle den Kampf gegen Covid-19 „noch viel schärfer und viel härter angehen“. Unter anderem soll es um Bewegungsradien gehen. Später dann, wenn Ramelow und seine Kolleginnen und Kollegen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) festlegen, welche Regeln ab kommenden Montag gelten sollen.
Schlechte Nachrichten für den Gesundheitsminister
Es gibt – keine Überraschung – darum einigen Streit. Im Vergleich allerdings zu dem Krach in Sachen Impfstoff-Beschaffung nicht mehr als ein Zwistchen. Seit am Montag offenbar geworden ist, dass Deutschland sehr viel mehr Vakzin-Dosen hätte ordern können, bebt die Bundesregierung. Erst kommt heraus, dass die Kanzlerin darauf bestand, die Bestellungen für die gesamte EU der Kommission anzuvertrauen, statt der von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mitinitiierten „ImpfAllianz“von Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Das lässt den Minister schlecht aussehen – und Merkel auch.
Dann wird publik, dass Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) die Gelegenheit nützt, die sich ihm offenbart. Er präsentiert Spahn einen „Fragenkatalog“zur Impf-Malaise, vier Seiten lang, Antworten bitte „möglichst zeitnah“. Und fast zeitgleich zieht Merkel das Impf-Thema ein zweites Mal an sich: Sie installiert eine Vierer-Arbeitsgruppe, zu der außer Spahn auch Scholz gehört.
Schlechter kann es für Spahn gar nicht laufen. Er gilt als Aspirant auf die Kanzlerkandidatur der Union – auch weil, seit ihm das Pandemie-Management zugefallen ist, seine Sympathiewerte explodiert sind. Aktuell rangiert er hinter der ewig führenden Merkel – und knapp vor Scholz, dem bislang einzigen erklärten Kanzlerkandidaten. Wer da einen Zusammenhang vermutet – liegt kein bisschen falsch. Prompt ätzt Spahn im Frühstücksfernsehen gegen die SPD, die wieder einmal „gleichzeitig Regierung und Opposition“sein wolle. Und mahnt dann, fast schon kanzlerisch, „Geschlossenheit und Entschlossenheit“an. „Die Bürger“erwarteten das.
Was die Bürger – und auch die Bürgerinnen – eher befürchten als erwarten: Das kommt. Am Nachmittag.
Gegen vier ist es heraus: Bund und Länder reduzieren die Bewegungsfreiheit weiter. In Regionen mit Inzidenzen ab 200 soll der Radius nur noch 15 Kilometer um den Wohnort betragen – „sofern kein triftiger Grund vorliegt“. Ausflüge in den Schnee – die um den Jahreswechsel etliche Gebirgsorte fast kollabieren ließen – sind „explizit“keiner. Distanz-Beziehungen, heißt es, schon.
Alle zwei Tage Corona-Tests für Abschlussklassen
Ramelow redet am Morgen von allgemeinem Zähnezusammenbeißen, von kollektivem Durchziehen – indes im Konjunktiv. Er entwickelt aber auch neue Ideen – etwa, dass er Abschlussklassen dasselbe Test-Regime bieten möchte wie Profisportlern: alle zwei Tage. Nicht sagt er, ob die künftigen Abiturienten sich in ähnliche Blasen begeben müssten wie etwa Skispringer oder Biathleten.
Am Nachmittag dann wird über fast sechs Stunden hinweg ohnehin nichts erfunden. Und erst recht nichts gelockert. Außer der Mobilität werden auch die Kontakte noch mehr eingeschränkt: ein Haushalt plus eine Person – und aus. Schulen und Kitas sollen bis Ende Januar geschlossen bleiben – dafür gibt es pro Kind und Elternteil zehn Tage zusätzliches Kinderkrankengeld.
„Einschneidend“nennt Merkel am Abend die neuen Regeln und „angesichts der Lage härter“. Keine Spur der „ersten Schritte zu einer Normalität“, die Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) ersehnt. Denn, sagt er: „Es ist jetzt keine Zeit für Halbherzigkeit.“Er meint ausdrücklich nicht nur die Regeln. Auch das Impfen.
Wegen Letzterem wird Deutschland weiter nach Berlin starren. Wie es aussieht, noch lang.
Es ist jetzt keine Zeit für Halbherzigkeit. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD)