„Das Beste zweier Welten“
Seit einem Jahr regieren in Österreich die Konservativen mit den Grünen – Corona überdeckt tiefere Konflikte
Vor einem Jahr begann in Österreich ein Experiment, über das Europas Medien und so manche Staatskanzlei staunen sollten: Am 7. Januar 2020 wurde die erste bürgerlich-grüne Bundesregierung angelobt – nicht nur die erste in Österreich, nein, die erste weltweit. ÖVP und Grüne bildeten 100 Tage nach der Parlamentswahl eine Koalition, die „das Beste zweier Welten“vereinen sollte, wie es ein strahlender Bundeskanzler Sebastian Kurz formulierte.
„Politisches Chamäleon“
Der Shootingstar der österreichischen Innenpolitik stand mit 33
Jahren am vorläufigen Höhepunkt seiner unglaublichen Karriere: jüngster Staatssekretär, jüngster Außenminister, seit 2017 jüngster Kanzler. Er hatte die alte, in Bünde-Kämpfen zerstrittene ÖVP putschartig übernommen, den damaligen Koalitionspartner SPÖ, die ewige Kanzlerpartei, bei seiner ersten Wahl in die Wüste geschickt und mit dem Gott-sei-beiuns, der rechtspopulistischen FPÖ, eine Koalition gebildet. Und als die eineinhalb Jahre später im eigenen Ibiza-Videoskandal-Sumpf versank, die nächste Wahl nur noch triumphaler gewonnen und mit den Grünen einen Pakt geschmiedet. „Politisches Chamäleon“, wetterten die einen, „So einen brauchen wir auch“, titelte die deutsche „Bild“.
Und ehe die Koalition, auf die Europa schaute, überhaupt loslegen konnte, der harte Kurs in der Migrationspolitik und Wirtschaftspolitik (ÖVP) mit dem ambitionierten Kurs in der Klima- und Umweltpolitik (Grüne) zusammenprallen konnte – kam Corona.
Keine wirkliche Harmonie
Seither ist das Team ÖVP/ÖVP im Krisenmodus. Statt der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler steht Gesundheitsminister Rudolf Anschober von der Grünen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; und statt „das Beste zweier Welten“moderieren zu können, muss Sebastian Kurz den Krisen-Kanzler geben. Zu Beginn mit großem Erfolg: Im Frühjahr handelte die Regierung unter seiner Führung rasch und effizient, verfügte früher als andere (mit Israel als Vorbild) einen ersten Lockdown und erreicht in Umfragen ungeahnte
Zustimmungswerte – die ÖVP schrammte gar an der absoluten Mehrheit vorbei. Die Grünen profitierten trotz Fehlern im Gesundheitsministerium davon.
Dann kam der Sommer, die Entspannung – und die fehlende Vorbereitung auf den Herbst, in dem die zweite Corona-Welle drohte. Als die kam, stimmte nichts mehr in der Krisenbewältigung. Einerseits aufgrund der Corona-Müdigkeit und fehlenden „Folgsamkeit“in der Bevölkerung; andererseits wegen der fehlenden Bereitschaft der Länderfürsten, sich Vorgaben aus Wien machen zu lassen; und schließlich, weil es zwischen der Kanzlerpartei und den Grünen doch nicht immer so harmonisch verlief.
Im Gegenteil: Die Popularität des grünen Gesundheitsministers war dem noch populäreren Kanzler ein Dorn im Auge. Da ließ man den Koalitionspartner schon das eine und andere Mal im Regen der Kritik stehen, wenn es um fehlende Anti-Corona-Maßnahmen ging. Erst im November trat Sebastian Kurz, der noch im Frühjahr fast im Tagestakt an die Öffentlichkeit getreten war, auf den Plan und nahm das Heft in die Hand. Offen ausgesprochener Subtext: Ich hätte ja den zweiten Lockdown und die strengeren Maßnahmen viel früher verfügt …
Und wie hätte Türkis-Grün ohne Corona funktioniert? Spannende Frage. Im Koalitionsübereinkommen im Januar wurden viele Punkte wie eine ökosoziale Steuerreform auf später verschoben. Einige Erfolge ließ die ÖVP den Grünen, wie etwa ein Pfand auf Plastikflaschen oder ein günstiges landesweites Ticket für öffentliche Verkehrsmittel.
Demütigung der Grünen
Aber in einigen Kernpunkten knirschte es auch in Corona-Zeiten heftig. Wann immer GrünenChef Werner Kogler „aufzeigte“und etwa eine Erbschaftssteuer zur Abfederung der CoronaKosten forderte oder eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria, wurde das seitens des Koalitionspartners kurzerhand als „Privatmeinung“abgetan. Demütigender kann man mit dem Koalitionspartner nicht umgehen. Dementsprechend mussten die Grünen auch die Kritik einstecken, in der Koalition der „besten zweier Welten“ständig im Liegen umzufallen.
Die 100-tägige Schonfrist, die einer neuen Regierung gemeinhin zugestanden wird, hat schon 365 Tage gedauert, oder anders: Ein Jahr nach dem Start für Türkis-Grün beginnt das Experiment eigentlich erst. Wenn Corona im Frühjahr irgendwann beherrschbarer Alltag sein wird, wenn nicht mehr Lockdown-, Massentest- und Impfprogramme im Mittelpunkt stehen werden, dann geht’s los mit dem „Besten aus zwei Welten“.
Und dann wird sich weisen, ob das Corona-Jahr die beiden ungleichen Partner trotz aller Widrigkeiten dauerhaft aneinandergeschweißt hat. Oder ob die Positionen der wirtschaftsliberalen ÖVP da und der umweltorientierten Grünen dort nicht zu weit auseinander liegen, ob Fragen wie Migration oder Sicherheit die beiden Partner nicht zu sehr trennen.
Und mancherorts in Europa wird man neugierig auf Österreich blicken, ob zwei so ungleiche Partner über Bezirks-, Stadtoder Länderebene hinaus, wo es ja schon unterschiedlich erfolgreich praktiziert wird, zusammenarbeiten und Zukunft gestalten können.
Die Popularität des grünen Gesundheitsministers war dem noch populäreren Kanzler ein Dorn im Auge.