Geistiger Brandstifter
Donald Trump hat einen Eid geschworen: „To preserve, protect and defend the Constitution of the United States ...“, die Verfassung der USA zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen. An diesem 6. Januar 2021, fast auf den Tag genau vier Jahre nach seiner Eidesleistung, hat der Präsident wieder einmal gezeigt, was ihm dieser Schwur bedeutet – nämlich gar nichts.
An dem von der Verfassung vorgesehenen Tag, an dem der Kongress den Wahlausgang vom 3. November und damit den Sieg von Joe Biden und Kamala Harris formal bestätigen sollte, fabuliert Trump vor seinen Fans von jener „gestohlenen Wahl“, die nur in seiner Fantasie existiert. Selbst Stunden, nachdem gewalttätige Trump-Anhänger mit wehenden Fahnen das Parlament gestürmt hatten, schaffte es der Präsident nur widerwillig, sie zur Mäßigung aufzurufen. Lieber geiferte er weiterhin per Twitter-Video, dass man eine „gefälschte Wahl“niemals akzeptieren werde.
Trump hat damit einen weiteren, traurigen Tiefpunkt der amerikanischen Demokratie gesetzt und diesen vor der Geschichte unwiderruflich mit seinem Namen verknüpft. Es ist unerträglich, mitansehen zu müssen, wie die Flagge der Konföderierten Staaten aus Bürgerkriegszeiten durch die Hallen des Kapitols getragen wird, wie Randalierer im Plenum Möbel stehlen und auf dem Platz des Kammervorsitzenden Selfies machen.
An diesem schändlichen Angriff auf die Republik trägt dieser Präsident als geistiger Brandstifter die Hauptschuld. Aber auch die Republikanische Partei, die zum Zweck des Machterhalts ihre Seele an Trump verkauft und jeden seiner autokratischen Winkelzüge mitgetragen hat, steht jetzt vor dem Scherbenhaufen ihrer rückgratlosen Politik. Sie hätte Donald Trump im Impeachmentverfahren vor einem Jahr aus dem Weißen Haus entfernen können, ja entfernen müssen. Jetzt hat sie nicht nur die Präsidentschaft, sondern auch das Repräsentantenhaus und, seit der Nachwahl in Georgia, den Senat verloren. Diese beruhigende Nachricht sollte am Tag nach diesem schwarzen 6. Januar 2021 nicht vergessen werden.
Viele Fragen werden nach den dramatischen Ereignissen dieses Tages zu beantworten sein. Wie konnte es sein, dass die Ordnungskräfte in Washington derart unvorbereitet auf den Ansturm des trumpistischen Mobs waren? Welchem Zufall war es zu verdanken, dass die militanten Rechten gestern das Chaos in und vor dem Kapitol nicht stärker für ihre Zwecke nutzten?
Wichtig ist, dass der Kongress trotz aller Störmanöver und Randale die Wahl von Joe Biden wie erwartet bestätigt hat. In zwei Wochen wird Donald Trump nicht mehr Präsident der USA sein. Man kann nur hoffen, dass die Tage bis dahin nicht noch mehr Ausschreitungen und Aufruhr bereithalten werden. Für eine Anklage und Bestrafung Trumps bleibt derweil wohl keine Zeit mehr. Seine gesamte Amtszeit sollte jedoch fortan – vor allem mit Blick auf die nächste Präsidentschaftswahl in vier Jahren – als Warnung dienen, wie knapp Amerika vor einem Abgleiten in den autokratischen Abgrund gestanden hat.