Bangen und Hoffen
Nach der Pandemie könnte Deutschland eine liberale Partei sehr gut brauchen – der FDP muss das nicht unbedingt nützen
Es hätte noch schlimmer kommen können, natürlich. Donald Trumps Vasallen hätten das Kapitol in Washington schon einen Tag früher stürmen können. Dann läge Stuttgart, rein politisch, an diesem Dreikönigstag 2021 auf dem Mond oder bestenfalls gleich neben Hintertupfingen, der provinziellsten deutschen Provinz. So aber ist das dortige Staatstheater nur gähnend leer – indes immerhin, wie an jedem 6. Januar, ein Ziel der Aufmerksamkeit des politisch interessierten Teils der Republik.
Seit 1946 markiert dieses Datum die Startlinie für Politik, die sich als liberal versteht. Anfangs war das ein höchst exklusiver Vorteil in Sachen Aufmerksamkeit; seit Franz Josef Strauß die Kreuther Klausuren erfand, muss die FDP ihn teilen mit der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Was nicht viel schadet. Üblicherweise ist das Staatstheater trotzdem in akuter Berst-Gefahr. Zum einen drängen sich auf seinen 1 400 Plätzen Freidemokraten und Gäste und Journalisten. Zum anderen versteht die FDP sich als Hort für Individualisten – da sind Spannungen eher die Regel als die Ausnahme.
Letzteres ist allerdings seit 2013 etwas anders. Da flog die Partei – aufgrund lausigen Regierens in einer Koalition mit CDU und CSU, geführt von Angela Merkel – aus dem Parlament. Das Verhältnis zur immer noch amtierenden Bundeskanzlerin war seitdem nicht ungetrübt, vorsichtig formuliert. Endgültig am Ende aber ist es seit 2017, exakt dem 19. November kurz vor Mitternacht. Da erklärte die FDP die Verhandlungen mit Union und Grünen zur Bildung einer sogenannten Jamaika-Koalition für gescheitert. Und ihr Vorsitzender Christian Lindner sagte den Satz: „Es ist besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren.“
Es gehört zu Lindners zahlreichen Gaben, für Zustände oder Entscheidungen nahezu aus dem Stegreif eingängige, bisweilen sogar grenzbrillante Formeln erfinden zu können. Das ist einerseits gut, weil das Publikum sie sich sofort merkt. Und andererseits schlecht, weil es sie auch dann nicht vergisst, wenn das funkelnd Formulierte sich als famoser Fehler erweist. Der Abbruch der Verhandlungen, das Verweigern des Regierens entpuppte sich sehr rasch als Letzteres. Anfangs versuchte Lindner, das noch zu bestreiten. Inzwischen gibt er es zu. Genauer: dass das Nein seiner Partei ziemlich geschadet hat. Im Übrigen bleibt er bei seiner Version, dass Merkel der FDP in den Verhandlungen nicht das sprichwörtliche Schwarze unter dem Fingernagel gegönnt habe. Weshalb ihm und den Seinen nichts anderes geblieben sei als der prämitternächtliche Eklat.
Sie haben ihn – wie die Formel – tausendmal bereut. Denn die Klientel hat ihn übelgenommen; schwer. Exakt: Sie nimmt übel – noch immer. FDP-Wähler treffen ihre Entscheidung wie ein Geschäft: Ich gebe dir meine Stimme – du lieferst mir dafür Freiheit von Bürokratie, Steuern, wirtschaftlichen Einengungen, staatlicher Bevormundung. Die FDP aber nahm 2017 die Stimmen: 10,7 Prozent, das fünftbeste Ergebnis ihrer Geschichte. Und lieferte – nichts.
Eine Partei im Umfragetief
Wie ihr das bekommt, zeigen die Umfragen. Zwischen eher häufigen fünf und eher seltenen sieben Prozent. Das klingt nicht nur nach Bangen und Hoffen – wegen der deutschen Fünf-Prozent-Hürde. Es bedeutet vor allem, dass die FDP knapp neun Monate vor der Bundestagswahl keine Regierungsoption hat. Union und Grüne können locker auf sie verzichten – Grünen und SPD würde auch sie keine Mehrheit verschaffen.
Üblicherweise ist es Lindners Strategie, über solche Defizite große Pläne zu breiten. „Aufbruch“brüllte vor einem Jahr die Dekoration im Staatstheater – und der Vorsitzende sprach vor begeistert applaudierendem Publikum von Offensive und neuen Wählern.
Nun ist kein Publikum da. Corona-bedingt. Und auch der Beifall fällt aus. Aber die Ziele der FDP für die Bundestagswahl sind nicht klein: Einzug ins Parlament als eigentliche Selbstverständlichkeit, gerne mit zweistelligem Ergebnis – und anschließender Regierungsbeteiligung. Man kann das alles in eine hübsche kleine Formel fassen: Die FDP muss es schaffen, dass die Wähler ihr wieder vertrauen.
Präzise: Lindner muss es schaffen. Denn auch wenn er das – inzwischen – gern ändern würde: Die FDP ist – seit er ihr Boss ist, seit sieben Jahren also – eine One-Man-Show. Nicht einmal einen dauerhaften Sidekick hat sie. Vor dem jüngsten Parteitag im September hat Lindner das öffentlich beklagt: Er brauche „mehr Hilfe und Unterstützung“. Allerdings war das eine Spitze gegen seine Generalsekretärin Linda Teuteberg, die er mit großem Bohei installiert hatte – und nun schon vor Ende ihrer ersten Amtszeit durch den rheinland-pfälzischen Wirtschaftsminister Volker Wissing ersetzte. Es war die zweite Personalie, die der FDP 2020 böse Kratzer ins ohnehin nicht hochglänzende Image schrammte. Die Erste trägt den Namen Thomas Kemmerich oder auch Erfurter Debakel. Dort in Thüringen ließ sich der Landes- und Fraktionschef mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen – und Lindner brachte ihn nur unter Mühen zur Räson der Partei.
FDP-Liberalität ist nicht komplett
Nun steht der Boss in Stuttgart, wie stets bei der FDP ist die Inszenierung perfekt, das Publikum ersetzen leuchtende Verheißungen wie „Mut“, „Verantwortung“, „Chancen“, „Weltoffenheit“– ins Schwarze des Raums projiziert. Und Lindner entwirft ein Bild von Deutschland in Zeiten der Pandemie, wo ein Wissenschaftler-Paar mit Migrationshintergrund den weltweit ersten Impfstoff zur Produktionsreife bringt. „Großartige Erfolgsgeschichte“sagt er. „Aber geben wir uns keiner Illusion hin: Sie ist nicht repräsentativ für unser Land.“Geht es nach Lindner indes „eine Inspiration“.
In seinem Zukunftsentwurf ist dann viel von Wirtschaft die Rede – und wenig von den Bürgern, deren aktuelle Rechtebeschneidung zur Pandemiebekämpfung er zuvor durchaus beklagt hat. Einst hat der ebenfalls begnadete Rhetoriker Guido Westerwelle die FDP zur „Partei der Besserverdienenden“ernannt. Ein Wahl-Erfolg. Aber seitdem fehlt der FDP ein Stück, das die Liberalität erst komplett macht. Und gerade jetzt fällt das besonders auf.
So wie das abrupte Ende der Stuttgart-Show – zumindest im TV. Phoenix blendet Lindner einfach weg – weil überraschend Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor die Kameras tritt. Und schon ist da wieder der Satz vom Regieren. Und er leuchtet viel heller und greller als der ganze Mut und die vielen Chancen von Stuttgart.
Das Nein zu einer Koalition mit CDU und Grünen hat der FDP merklich geschadet.