Der rote Judas
6
Der Satz hörte sich an, als hätte sie lange daran gefeilt. Nicht eine Spur von Heiserkeit lag in ihrer Stimme.
„Warum nicht?“Er hätte schreien mögen, beherrschte sich aber und gab sich den Anschein von Sachlichkeit. „Ich kann doch nicht bei meinen alten Eltern wohnen! Wir müssen reden, Edith.“
Sie schüttelte den Kopf. „Gott, was gibt es denn noch zu reden? Ich habe dir doch alles geschrieben.“Edith ging zum Sekretär, kehrte mit einem Stapel Briefe zurück. „Die sind erst in den letzten Tagen gekommen, ich habe sie deiner Mutter noch nicht bringen können. Gott, Paul, es tut mir doch selbst so leid!“An ihr vorbei betrachtete Stainer den Sekretär. An den erinnerte er sich, jedenfalls dunkel. Aber hatte das Kaiser-Wilhelm-Porträt schon immer darüber gehangen? Nach seiner Erinnerung hatte er diesen selbstgefälligen Herrn schon vor dem Krieg nicht leiden können. Außerdem war er Sozialdemokrat.
Wie hätte er da ein Bild von Wilhelm Zwo in der Wohnstube ertragen können?
Er schaute zur Schlafzimmertür und zum Klavier links daneben. Und glaubte plötzlich sicher zu wissen, dass es im September 14 rechts von der Schlafzimmertür gestanden hatte. So sicher, dass er Edith beinahe danach gefragt hätte.
Die stand nun vor ihm und streckte ihm die Kuverts hin. Statt sie zu nehmen, betrachtete er ihre Hand. Sie trug keinen Ring mehr – sie meinte es ernst! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Fausthieb.
Er riss ihr die Briefe aus der Hand, senkte schnell den Blick und tat, als würde er die Post durchsehen, so routiniert, als hätte er all die Jahre im Graben, im Dreck, im Lazarett, im Gefangenenlager tagtäglich die Briefe durchgesehen. Etwas stieg ihm die enge Kehle hoch wie eine Blase dicker, schlechter Luft. Er schluckte, er atmete tiefer, er hielt sie in Schach, die lästige Blase, und bekam sie endlich heruntergeschlungen.
„Dein letzter Brief kam vor vier Jahren, Paul!“Edith zog sich einen Stuhl an seinen Sessel, setzte sich auf die Kante und beugte sich zu ihm. Würde sie seine Hand nehmen? „Vor – vier – Jahren!“Sie betonte jedes Wort und dachte gar nicht daran, seine Hand zu berühren.
„Andere Frauen haben es durchgehalten.“Diese lästige Heiserkeit! Er schluckte und schluckte. „Manche fünf Jahre und länger.“
„Weil sie Lebenszeichen erhalten haben!“Sie wurde lauter.
„Feldpost, Briefe vom Roten Kreuz, offizielle Benachrichtigungen von der Reichswehr! Ich hatte nichts!“Sie warf die Arme in die Luft. „Nichts! Was hätte ich denn tun sollen?“
Sie hatte recht. Doch wie hätte er schreiben sollen? Wie hätte ein verstörtes Angstbündel, an ein Lazarettbett geschnallt und nahezu ohne Gedächtnis, schreiben sollen? Und wie sollte er das irgendeinem Menschen erklären?
Mit einer müden Geste streckte er die Hand nach ihr aus, wollte ihren Arm berühren. „Warten, Edith. Du hättest warten können.“
Sie wich zurück. „Habe ich das nicht die Jahre zuvor schon getan? Habe ich das nicht viel zu lange getan?“In ihren Zügen stand jetzt der vertraute Vorwurf, in ihrem Blick der vertraute Zorn. „Ich war doch nur den Papieren nach deine Ehefrau, verheiratet warst du mit der Wächterburg!“
Er blieb stumm. Die Wächterburg – das Polizeiamt Leipzig. Die nächste Klippe. Wer brauchte einen Kriminalisten mit krankem
Kopf, mit Gedächtnislücken? Wenn sie auf seiner alten Dienststelle erfuhren, wie übel ihm der Krieg mitgespielt hatte, würde er sein geliebtes Polizeiamt in der Wächterstraße nur noch ein einziges Mal betreten: um seine Papiere abzuholen. Er schüttelte sich. Bloß nicht daran denken.
Edith strich sich seufzend über die Stirn. „Wie auch immer – ich musste dich für tot halten, Paul. Ich musste!“Sie stand auf, fummelte eine Zigarette aus einer Schachtel in ihr schwarzes Mundstück und zündete sie an. „Und jetzt ist es zu spät.“Sie ging zum Fenster, wo sie einen hastigen Zug nach dem anderen nahm.
Er hatte vergessen, dass sie rauchte. Oder hatte sie erst während des Krieges damit angefangen?
Eine Zeit lang schwiegen sie. Sie starrte in die Winternacht hinaus und blies den Rauch in die Topfpflanzen, er dachte an ihren vorletzten Brief, an den, der es kurz vor Weihnachten zu den Franzosen geschafft hatte. Sie habe erst im November Nachricht von der Reichswehr bekommen, hatte sie da geschrieben, sie habe ihn für tot gehalten, und da keine Kinder sie aneinander bänden, habe sie einen Entschluss gefasst. Sie wolle die Scheidung.
Das war Edith. Klar, konsequent, kompromisslos. Das war seine Frau.
Stainer suchte nach Worten – und fand sein Zigarettenetui.
Er zog es aus dem Mantel, holte eine Salem heraus. Weil seine Hand zitterte, verzichtete er darauf, sie anzuzünden. „Hör zu, Edith. Ich …“Er räusperte sich, setzte noch einmal an. „Ich will dich um etwas bitten. Ich bitte dich, es dir noch einmal zu überlegen. Eine Ehe wirft man nicht einfach so weg.“
„Einfach so? Machen wir uns doch nichts vor!“Sie fuhr herum, blies den Rauch in seine Richtung. „Es war doch schon in den drei Jahren vor dem Krieg kalt und still geworden zwischen uns. So kalt und still, dass ich nichts vermisst habe, seit du vor sechs Jahren in den Zug gestiegen bist. Nichts!“Sie senkte die Stimme, merkte wohl, wie hart ihre Worte ihn treffen mussten.
„Es tut mir leid, das so sagen zu müssen, Paul.“Sie setzte sich wieder zu ihm. „Doch es ist die Wahrheit.“
Seine Kehle war wie zugeschnürt. Hatte sie recht? Kein klarer Gedanke wollte ihm mehr gelingen.
War es wirklich so schlimm gewesen? Übertrieb sie nicht maßlos? Stainer umklammerte das Zigarettenetui, zerbrach die Zigarette zwischen den Fingern, wünschte sich weit weg und schien doch an seinem Lesesessel festgefroren zu sein.
Er schaute ihr in die Augen. Ediths Blick hatte etwas Forschendes, beinahe Lauerndes.