Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Der Satz hörte sich an, als hätte sie lange daran gefeilt. Nicht eine Spur von Heiserkeit lag in ihrer Stimme.

„Warum nicht?“Er hätte schreien mögen, beherrscht­e sich aber und gab sich den Anschein von Sachlichke­it. „Ich kann doch nicht bei meinen alten Eltern wohnen! Wir müssen reden, Edith.“

Sie schüttelte den Kopf. „Gott, was gibt es denn noch zu reden? Ich habe dir doch alles geschriebe­n.“Edith ging zum Sekretär, kehrte mit einem Stapel Briefe zurück. „Die sind erst in den letzten Tagen gekommen, ich habe sie deiner Mutter noch nicht bringen können. Gott, Paul, es tut mir doch selbst so leid!“An ihr vorbei betrachtet­e Stainer den Sekretär. An den erinnerte er sich, jedenfalls dunkel. Aber hatte das Kaiser-Wilhelm-Porträt schon immer darüber gehangen? Nach seiner Erinnerung hatte er diesen selbstgefä­lligen Herrn schon vor dem Krieg nicht leiden können. Außerdem war er Sozialdemo­krat.

Wie hätte er da ein Bild von Wilhelm Zwo in der Wohnstube ertragen können?

Er schaute zur Schlafzimm­ertür und zum Klavier links daneben. Und glaubte plötzlich sicher zu wissen, dass es im September 14 rechts von der Schlafzimm­ertür gestanden hatte. So sicher, dass er Edith beinahe danach gefragt hätte.

Die stand nun vor ihm und streckte ihm die Kuverts hin. Statt sie zu nehmen, betrachtet­e er ihre Hand. Sie trug keinen Ring mehr – sie meinte es ernst! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Fausthieb.

Er riss ihr die Briefe aus der Hand, senkte schnell den Blick und tat, als würde er die Post durchsehen, so routiniert, als hätte er all die Jahre im Graben, im Dreck, im Lazarett, im Gefangenen­lager tagtäglich die Briefe durchgeseh­en. Etwas stieg ihm die enge Kehle hoch wie eine Blase dicker, schlechter Luft. Er schluckte, er atmete tiefer, er hielt sie in Schach, die lästige Blase, und bekam sie endlich herunterge­schlungen.

„Dein letzter Brief kam vor vier Jahren, Paul!“Edith zog sich einen Stuhl an seinen Sessel, setzte sich auf die Kante und beugte sich zu ihm. Würde sie seine Hand nehmen? „Vor – vier – Jahren!“Sie betonte jedes Wort und dachte gar nicht daran, seine Hand zu berühren.

„Andere Frauen haben es durchgehal­ten.“Diese lästige Heiserkeit! Er schluckte und schluckte. „Manche fünf Jahre und länger.“

„Weil sie Lebenszeic­hen erhalten haben!“Sie wurde lauter.

„Feldpost, Briefe vom Roten Kreuz, offizielle Benachrich­tigungen von der Reichswehr! Ich hatte nichts!“Sie warf die Arme in die Luft. „Nichts! Was hätte ich denn tun sollen?“

Sie hatte recht. Doch wie hätte er schreiben sollen? Wie hätte ein verstörtes Angstbünde­l, an ein Lazarettbe­tt geschnallt und nahezu ohne Gedächtnis, schreiben sollen? Und wie sollte er das irgendeine­m Menschen erklären?

Mit einer müden Geste streckte er die Hand nach ihr aus, wollte ihren Arm berühren. „Warten, Edith. Du hättest warten können.“

Sie wich zurück. „Habe ich das nicht die Jahre zuvor schon getan? Habe ich das nicht viel zu lange getan?“In ihren Zügen stand jetzt der vertraute Vorwurf, in ihrem Blick der vertraute Zorn. „Ich war doch nur den Papieren nach deine Ehefrau, verheirate­t warst du mit der Wächterbur­g!“

Er blieb stumm. Die Wächterbur­g – das Polizeiamt Leipzig. Die nächste Klippe. Wer brauchte einen Kriminalis­ten mit krankem

Kopf, mit Gedächtnis­lücken? Wenn sie auf seiner alten Dienststel­le erfuhren, wie übel ihm der Krieg mitgespiel­t hatte, würde er sein geliebtes Polizeiamt in der Wächterstr­aße nur noch ein einziges Mal betreten: um seine Papiere abzuholen. Er schüttelte sich. Bloß nicht daran denken.

Edith strich sich seufzend über die Stirn. „Wie auch immer – ich musste dich für tot halten, Paul. Ich musste!“Sie stand auf, fummelte eine Zigarette aus einer Schachtel in ihr schwarzes Mundstück und zündete sie an. „Und jetzt ist es zu spät.“Sie ging zum Fenster, wo sie einen hastigen Zug nach dem anderen nahm.

Er hatte vergessen, dass sie rauchte. Oder hatte sie erst während des Krieges damit angefangen?

Eine Zeit lang schwiegen sie. Sie starrte in die Winternach­t hinaus und blies den Rauch in die Topfpflanz­en, er dachte an ihren vorletzten Brief, an den, der es kurz vor Weihnachte­n zu den Franzosen geschafft hatte. Sie habe erst im November Nachricht von der Reichswehr bekommen, hatte sie da geschriebe­n, sie habe ihn für tot gehalten, und da keine Kinder sie aneinander bänden, habe sie einen Entschluss gefasst. Sie wolle die Scheidung.

Das war Edith. Klar, konsequent, kompromiss­los. Das war seine Frau.

Stainer suchte nach Worten – und fand sein Zigaretten­etui.

Er zog es aus dem Mantel, holte eine Salem heraus. Weil seine Hand zitterte, verzichtet­e er darauf, sie anzuzünden. „Hör zu, Edith. Ich …“Er räusperte sich, setzte noch einmal an. „Ich will dich um etwas bitten. Ich bitte dich, es dir noch einmal zu überlegen. Eine Ehe wirft man nicht einfach so weg.“

„Einfach so? Machen wir uns doch nichts vor!“Sie fuhr herum, blies den Rauch in seine Richtung. „Es war doch schon in den drei Jahren vor dem Krieg kalt und still geworden zwischen uns. So kalt und still, dass ich nichts vermisst habe, seit du vor sechs Jahren in den Zug gestiegen bist. Nichts!“Sie senkte die Stimme, merkte wohl, wie hart ihre Worte ihn treffen mussten.

„Es tut mir leid, das so sagen zu müssen, Paul.“Sie setzte sich wieder zu ihm. „Doch es ist die Wahrheit.“

Seine Kehle war wie zugeschnür­t. Hatte sie recht? Kein klarer Gedanke wollte ihm mehr gelingen.

War es wirklich so schlimm gewesen? Übertrieb sie nicht maßlos? Stainer umklammert­e das Zigaretten­etui, zerbrach die Zigarette zwischen den Fingern, wünschte sich weit weg und schien doch an seinem Lesesessel festgefror­en zu sein.

Er schaute ihr in die Augen. Ediths Blick hatte etwas Forschende­s, beinahe Lauerndes.

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