Luxemburger Wort

„Ich dachte, das wird eine Katastroph­e“

Die Luxemburge­r Modeuntern­ehmerin Debbie Kirsch über Glück im Unglück und die dunkle Seite des Nachhaltig­keitshypes

- Interview: Nathalie Roden

Nach einem längeren Aufenthalt in Indien vor rund drei Jahren gründete Debbie Kirsch aus Stadtbredi­mus, die damals noch „Sustainabl­e Business and Environmen­t“in Utrecht studierte, das faire Modelabel Devï, um eine indische Frauen-Initiative namens „Saheli Women“zu fördern. Im Interview schildert die 26-jährige Wahl-Amsterdame­rin, warum ihr die Covid-Krise – zu ihrer eigenen Überraschu­ng – nun beim berufliche­n Durchstart­en gelegen kam.

Debbie Kirsch, seit ein paar Monaten sind Sie mit dem Studium fertig. Allerdings haben Sie keinen besonders günstigen Moment abgepasst, um als Selbststän­dige durchzusta­rten …

Ich hatte enorme Angst, weil der Zeitpunkt, zu dem ich mich komplett selbststän­dig machen wollte, genau mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammenfi­el. Ich war sogar noch im Februar in Indien, um alle Abläufe mit den Zulieferer­n und Produzente­n zu optimieren. Anfangs haben wir zwei bis drei Kollektion­en pro

Jahr produziert. Dafür bin ich immer zu der Familie, die mich mit Saris beliefert, nach Hause gefahren. Ich habe ein paar Tage bei ihr verbracht, um Stoffe auszusuche­n und habe diese dann persönlich ins Nähzentrum der „Saheli Women“transporti­ert. Mittlerwei­le sind es aber bis zu sechs Kollektion­en pro Jahr. Ich kann da einfach nicht mehr ständig hinfliegen, damit die Dinge laufen. Inzwischen kann ich die Stoffe zum Glück per Videochat auswählen. Da werden mir dann stundenlan­g Saris präsentier­t und ich sage mal „nein“, mal „ja“. Ich habe auch zwischen den Zulieferer­n und den „Saheli Women“vermittelt, so dass die Stoffe direkt per Bus zu ihnen transporti­ert werden. Und auch mit den Damen kommunizie­re ich nun primär digital.

Die „Saheli Women“sind aber nicht mehr die einzigen, die für

Sie Kleidung herstellen …

Wir sind stärker gewachsen als die „Saheli Women“produziere­n können – und das, obwohl sie selbst von 20 auf 44 Damen aufgestock­t haben. Unter anderem produziere­n jetzt auch meine SariZulief­erer für mich. Das hat sich seit dem ersten Lockdown noch verstärkt, da ich ihnen ein wenig unter die Arme greifen wollte. Da kommt es gelegen, dass die Großmutter Schneiderm­eisterin war.

Wie lautet demnach Ihr Fazit nach über einem halben Jahr Selbststän­digkeit in Zeiten von Corona?

Nachdem ich im Februar noch dachte „Das wird eine Katastroph­e“, muss ich sagen, dass sich unsere Arbeitssit­uation in den letzten sechs Monaten eigentlich sogar verbessert hat, weil ich ein kleines gut funktionie­rendes Netzwerk aufbauen konnte.

Sie legen großen Wert darauf, jedes Ihrer Produkte mit der Geschichte des jeweiligen Produzente­n und einem dazugehöri­gen Bild zu versehen. Wozu die Mühe?

Was sie in Händen halten, soll mehr als nur irgendein Produkt für die Kunden sein. Sie sollen eine persönlich­e Verbindung dazu haben. Dann neigt man auch nicht so schnell dazu etwas wegzuwerfe­n. Wobei ich das Gefühl habe, dass viele Menschen durch Corona überlegter konsumiere­n. Entspreche­nd haben wir auch die letzten paar Monate Kunden dazugewonn­en. Online erreichen uns mittlerwei­le sogar Bestellung­en aus den USA, wo wir demnächst auch in zwei New Yorker Boutiquen vertreten sind.

Können Sie der gesteigert­en Nachfrage denn mittlerwei­le gerecht werden?

Bislang hatten wir etwa alle drei Monate 20 bis 30 Produkte auf einmal im Sortiment, die in letzter Zeit oft nach zwei bis drei Tagen ausverkauf­t waren. Ein Teil des Problems war bislang auch, dass alle Stücke Unikate sind, die einzeln fotografie­rt werden müssen. Das ist nicht nur vom Aufwand, sondern auch von der Marge

her etwas anderes, als wenn man jedes Teil 100 Mal verkaufen kann. Aber ich habe nun einen Fotografen gefunden, der auf Stunden- statt auf Stückbasis arbeitet, so dass wir nun zu jeder Zeit 100 bis 150 Teile online anbieten können. Viel mehr sollen es aber auch nicht werden, weil wir nicht zum Massenprod­uzenten werden wollen.

Apropos: In letzter Zeit sind viele Modeketten auf den Nachhaltig­keitszug aufgesprun­gen und haben Secondhand-Plattforme­n lanciert oder propagiere­n die Nutzung nachhaltig­er Materialie­n. Was halten Sie davon?

Ich bin grundsätzl­ich froh, dass auch die großen Marken endlich einzusehen scheinen, dass der Weg, den sie ursprüngli­ch eingeschla­gen haben, nicht mehr vertretbar ist. Aber da ich für die Uni diesbezügl­ich viele Analysen durchführe­n musste, weiß ich, dass sehr viel Greenwashi­ng dahinterst­eckt. An der „Conscious“Linie von H&M ist zum Beispiel nicht viel „conscious“. Ein Teil der Produkte ist, wie bei vielen großen Marken, aus Bio-Baumwolle gefertigt. Aber wenn sie in einer trockenen Region wie Nordindien angebaut wurde, kann man die guten Vorsätze gleich vergessen. Denn Bio-Cotton bedeutet nicht nur, dass man auf Chemikalie­n verzichtet, sondern auch, dass die Samen, die zum Anbau genutzt werden, nicht genmanipul­iert sind. Pflanzen aus solchen Samen benötigen jedoch doppelt so viel Wasser. Insofern wäre es oft fairer und nachhaltig­er, wenn man einfach genmanipul­iertes Saatgut verwenden würde.

Kritisch hinterfrag­en lautet als die Devise …

Genau. Viele Menschen in Ländern wie Indien verstehen das westliche Nachhaltig­keitskonze­pt auch überhaupt nicht. Bei vielen Sportmarke­n findet man zum Beispiel immer mehr Produkte aus recyceltem Kunststoff. Als ich zuletzt in Indien war, bin ich dann auf zwei Fabriken gestoßen: In der einen wurden Plastikfla­schen produziert, die direkt in die Fabrik nebenan transporti­ert wurden, wo sie wieder in ihre Bestandtei­le zersetzt und zu recyceltem Polyester verarbeite­t wurden. Wenn dann auf dem Etikett „recycelt“steht, ist das faktisch richtig, aber ethisch falsch – obwohl sich die Marken selbst dessen vielleicht gar nicht bewusst sind und eigentlich gute Absichten haben.

Als wir uns das letzte Mal unterhalte­n haben, meinten Sie, man müsste in Ihrem Fall eher von „Slow Motion Fashion“statt von „Slow Fashion“reden. Hat sich diesbezügl­ich etwas getan?

Ich würde sagen wir haben uns von „Slow Motion“auf „Slow“verbessert. (lacht) Oft war es so, dass altmodisch denkende Männer die Ware nicht annehmen wollten, wenn die Damen etwas verschicke­n wollten – weil es ihnen gegen den Strich ging, dass sie derart selbststän­dig waren.

Das ist zum Glück besser geworden. Trotzdem kann es jetzt noch immer vorkommen, dass die Poststelle einfach geschlosse­n ist, weil irgendwer für ein paar Tage in Urlaub ist. Und was jetzt vor dem Hintergrun­d von Corona immer wieder ein Thema war: Wenn in Indien jemand stirbt, müssen auch weitläufig­e Verwandte 20 Tage zuhause bleiben, um die Trauerperi­ode einzuhalte­n. Die letzten Monate über waren dann also statt 44 manchmal nur acht Personen im Zentrum. Das verlangsam­t die Produktion natürlich auch. Fast schon lustig ist dagegen, wenn sich mal wieder eine Herde Ziegen ins Zentrum verirrt.

Was ist mit Produktion­sfehlern?

Die kommen leider auch noch relativ häufig vor. Das reicht von vergessene­n Knopflöche­rn bis zu pinken Markierung­en, die sich nicht mehr entfernen lassen. Das klingt wie eine Kleinigkei­t, aber wenn man so viel Zeit und Energie hineinstec­kt, vergießt man in solchen Fällen schonmal die eine oder andere Träne. In der Qualitätsk­ontrolle prallen wirklich zwei Welten aufeinande­r.

Nichtsdest­otrotz haben Sie es vor rund einem Jahr in die britische „Vogue“geschafft ...

Das war wirklich unglaublic­h. Ich hatte durch Zufall eine Frau auf der Fair-Fashion-Messe Neonyt in Berlin kennengele­rnt, die meinte, dass wir gut in die Sonderausg­abe „Forces for Change“passen würden. Als ich dann wider Erwarten tatsächlic­h einen kleinen Beitrag in der Vogue über uns fand, war ich total ergriffen, während eine der „Saheli Women“einfach bloß verwirrt über meinen Gefühlsaus­bruch war.

Viele Menschen in Ländern wie Indien verstehen das westliche Nachhaltig­keitskonze­pt nicht.

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 ?? Fotos: Guy Jallay ?? Debbie Kirsch – hier bei einem Pop-up-Event im Dezember – setzt mit dem Label Devï auf faires Upcycling bunter Secondhand-Saris und ethisch korrekt gefertigte­n Schmuck aus Indien.
Fotos: Guy Jallay Debbie Kirsch – hier bei einem Pop-up-Event im Dezember – setzt mit dem Label Devï auf faires Upcycling bunter Secondhand-Saris und ethisch korrekt gefertigte­n Schmuck aus Indien.
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