„Ich dachte, das wird eine Katastrophe“
Die Luxemburger Modeunternehmerin Debbie Kirsch über Glück im Unglück und die dunkle Seite des Nachhaltigkeitshypes
Nach einem längeren Aufenthalt in Indien vor rund drei Jahren gründete Debbie Kirsch aus Stadtbredimus, die damals noch „Sustainable Business and Environment“in Utrecht studierte, das faire Modelabel Devï, um eine indische Frauen-Initiative namens „Saheli Women“zu fördern. Im Interview schildert die 26-jährige Wahl-Amsterdamerin, warum ihr die Covid-Krise – zu ihrer eigenen Überraschung – nun beim beruflichen Durchstarten gelegen kam.
Debbie Kirsch, seit ein paar Monaten sind Sie mit dem Studium fertig. Allerdings haben Sie keinen besonders günstigen Moment abgepasst, um als Selbstständige durchzustarten …
Ich hatte enorme Angst, weil der Zeitpunkt, zu dem ich mich komplett selbstständig machen wollte, genau mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammenfiel. Ich war sogar noch im Februar in Indien, um alle Abläufe mit den Zulieferern und Produzenten zu optimieren. Anfangs haben wir zwei bis drei Kollektionen pro
Jahr produziert. Dafür bin ich immer zu der Familie, die mich mit Saris beliefert, nach Hause gefahren. Ich habe ein paar Tage bei ihr verbracht, um Stoffe auszusuchen und habe diese dann persönlich ins Nähzentrum der „Saheli Women“transportiert. Mittlerweile sind es aber bis zu sechs Kollektionen pro Jahr. Ich kann da einfach nicht mehr ständig hinfliegen, damit die Dinge laufen. Inzwischen kann ich die Stoffe zum Glück per Videochat auswählen. Da werden mir dann stundenlang Saris präsentiert und ich sage mal „nein“, mal „ja“. Ich habe auch zwischen den Zulieferern und den „Saheli Women“vermittelt, so dass die Stoffe direkt per Bus zu ihnen transportiert werden. Und auch mit den Damen kommuniziere ich nun primär digital.
Die „Saheli Women“sind aber nicht mehr die einzigen, die für
Sie Kleidung herstellen …
Wir sind stärker gewachsen als die „Saheli Women“produzieren können – und das, obwohl sie selbst von 20 auf 44 Damen aufgestockt haben. Unter anderem produzieren jetzt auch meine SariZulieferer für mich. Das hat sich seit dem ersten Lockdown noch verstärkt, da ich ihnen ein wenig unter die Arme greifen wollte. Da kommt es gelegen, dass die Großmutter Schneidermeisterin war.
Wie lautet demnach Ihr Fazit nach über einem halben Jahr Selbstständigkeit in Zeiten von Corona?
Nachdem ich im Februar noch dachte „Das wird eine Katastrophe“, muss ich sagen, dass sich unsere Arbeitssituation in den letzten sechs Monaten eigentlich sogar verbessert hat, weil ich ein kleines gut funktionierendes Netzwerk aufbauen konnte.
Sie legen großen Wert darauf, jedes Ihrer Produkte mit der Geschichte des jeweiligen Produzenten und einem dazugehörigen Bild zu versehen. Wozu die Mühe?
Was sie in Händen halten, soll mehr als nur irgendein Produkt für die Kunden sein. Sie sollen eine persönliche Verbindung dazu haben. Dann neigt man auch nicht so schnell dazu etwas wegzuwerfen. Wobei ich das Gefühl habe, dass viele Menschen durch Corona überlegter konsumieren. Entsprechend haben wir auch die letzten paar Monate Kunden dazugewonnen. Online erreichen uns mittlerweile sogar Bestellungen aus den USA, wo wir demnächst auch in zwei New Yorker Boutiquen vertreten sind.
Können Sie der gesteigerten Nachfrage denn mittlerweile gerecht werden?
Bislang hatten wir etwa alle drei Monate 20 bis 30 Produkte auf einmal im Sortiment, die in letzter Zeit oft nach zwei bis drei Tagen ausverkauft waren. Ein Teil des Problems war bislang auch, dass alle Stücke Unikate sind, die einzeln fotografiert werden müssen. Das ist nicht nur vom Aufwand, sondern auch von der Marge
her etwas anderes, als wenn man jedes Teil 100 Mal verkaufen kann. Aber ich habe nun einen Fotografen gefunden, der auf Stunden- statt auf Stückbasis arbeitet, so dass wir nun zu jeder Zeit 100 bis 150 Teile online anbieten können. Viel mehr sollen es aber auch nicht werden, weil wir nicht zum Massenproduzenten werden wollen.
Apropos: In letzter Zeit sind viele Modeketten auf den Nachhaltigkeitszug aufgesprungen und haben Secondhand-Plattformen lanciert oder propagieren die Nutzung nachhaltiger Materialien. Was halten Sie davon?
Ich bin grundsätzlich froh, dass auch die großen Marken endlich einzusehen scheinen, dass der Weg, den sie ursprünglich eingeschlagen haben, nicht mehr vertretbar ist. Aber da ich für die Uni diesbezüglich viele Analysen durchführen musste, weiß ich, dass sehr viel Greenwashing dahintersteckt. An der „Conscious“Linie von H&M ist zum Beispiel nicht viel „conscious“. Ein Teil der Produkte ist, wie bei vielen großen Marken, aus Bio-Baumwolle gefertigt. Aber wenn sie in einer trockenen Region wie Nordindien angebaut wurde, kann man die guten Vorsätze gleich vergessen. Denn Bio-Cotton bedeutet nicht nur, dass man auf Chemikalien verzichtet, sondern auch, dass die Samen, die zum Anbau genutzt werden, nicht genmanipuliert sind. Pflanzen aus solchen Samen benötigen jedoch doppelt so viel Wasser. Insofern wäre es oft fairer und nachhaltiger, wenn man einfach genmanipuliertes Saatgut verwenden würde.
Kritisch hinterfragen lautet als die Devise …
Genau. Viele Menschen in Ländern wie Indien verstehen das westliche Nachhaltigkeitskonzept auch überhaupt nicht. Bei vielen Sportmarken findet man zum Beispiel immer mehr Produkte aus recyceltem Kunststoff. Als ich zuletzt in Indien war, bin ich dann auf zwei Fabriken gestoßen: In der einen wurden Plastikflaschen produziert, die direkt in die Fabrik nebenan transportiert wurden, wo sie wieder in ihre Bestandteile zersetzt und zu recyceltem Polyester verarbeitet wurden. Wenn dann auf dem Etikett „recycelt“steht, ist das faktisch richtig, aber ethisch falsch – obwohl sich die Marken selbst dessen vielleicht gar nicht bewusst sind und eigentlich gute Absichten haben.
Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, meinten Sie, man müsste in Ihrem Fall eher von „Slow Motion Fashion“statt von „Slow Fashion“reden. Hat sich diesbezüglich etwas getan?
Ich würde sagen wir haben uns von „Slow Motion“auf „Slow“verbessert. (lacht) Oft war es so, dass altmodisch denkende Männer die Ware nicht annehmen wollten, wenn die Damen etwas verschicken wollten – weil es ihnen gegen den Strich ging, dass sie derart selbstständig waren.
Das ist zum Glück besser geworden. Trotzdem kann es jetzt noch immer vorkommen, dass die Poststelle einfach geschlossen ist, weil irgendwer für ein paar Tage in Urlaub ist. Und was jetzt vor dem Hintergrund von Corona immer wieder ein Thema war: Wenn in Indien jemand stirbt, müssen auch weitläufige Verwandte 20 Tage zuhause bleiben, um die Trauerperiode einzuhalten. Die letzten Monate über waren dann also statt 44 manchmal nur acht Personen im Zentrum. Das verlangsamt die Produktion natürlich auch. Fast schon lustig ist dagegen, wenn sich mal wieder eine Herde Ziegen ins Zentrum verirrt.
Was ist mit Produktionsfehlern?
Die kommen leider auch noch relativ häufig vor. Das reicht von vergessenen Knopflöchern bis zu pinken Markierungen, die sich nicht mehr entfernen lassen. Das klingt wie eine Kleinigkeit, aber wenn man so viel Zeit und Energie hineinsteckt, vergießt man in solchen Fällen schonmal die eine oder andere Träne. In der Qualitätskontrolle prallen wirklich zwei Welten aufeinander.
Nichtsdestotrotz haben Sie es vor rund einem Jahr in die britische „Vogue“geschafft ...
Das war wirklich unglaublich. Ich hatte durch Zufall eine Frau auf der Fair-Fashion-Messe Neonyt in Berlin kennengelernt, die meinte, dass wir gut in die Sonderausgabe „Forces for Change“passen würden. Als ich dann wider Erwarten tatsächlich einen kleinen Beitrag in der Vogue über uns fand, war ich total ergriffen, während eine der „Saheli Women“einfach bloß verwirrt über meinen Gefühlsausbruch war.
Viele Menschen in Ländern wie Indien verstehen das westliche Nachhaltigkeitskonzept nicht.