Von der Leyens Kuschelkurs mit Berlin
Nach über einem Jahr im Amt hat sich der Anfangsverdacht bereits zu oft bestätigt: Anstatt die Kommissionspräsidentin aller Europäer zu sein, bleibt Ursula von der Leyen vor allem eine deutsche Innenpolitikerin. Das Gezerre rund um die Beschaffung von Impfstoff für die Europäische Union ist ein weiterer, schmerzhafter Beweis dafür. Weil in Deutschland eine weitgehend absurde Kontroverse über Impfstoffmengen losgetreten wurde, kaufte die EU kurzfristig im Namen aller Europäer am Freitag weitere 300 Millionen Dosen des Biontech-Corona-Impfstoffes.
Nun mag die Nachricht gut für alle Europäer sein, traurig ist allerdings, dass die Hauptmotivation dafür, die Besänftigung der deutschen Öffentlichkeit ist. Besonders, da die meisten Experten sich einig sind, dass nicht die Menge an bestellten Dosen Grund für die zu langsam anlaufenden Impfkampagnen ist (die EU hat bereits mehr als genügend Impfstoff
vorsorglich eingekauft), sondern der Engpass bei der Produktion und die undurchdachten nationalen Impfstrategien. Noch problematischer ist aber die Unfähigkeit der EU-Kommission von Ursula von der Leyen, nicht-europäisches Handeln in Berlin klar zu verurteilen. Das war auch bei den einseitigen Grenzschließungen der Fall, für die von der Leyen sogar Verständnis gezeigt hatte.
Ähnlich verständnisvoll zeigte sich von der Leyen gegenüber der Bundesregierung, als diese sich weigerte, Staaten wie Italien oder Spanien im Frühjahr konsequent finanziell unter die Arme zu greifen. Zum Glück aber änderte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Meinung auf dem Höhepunkt der Krise radikal – denn auf eine Mahnung aus Brüssel hätte man noch lange gewartet.
Und in der Impf-Kontroverse zeigt Ursula von der Leyen schon wieder sehr viel Empathie gegenüber deutschen Alleingängen. Ihre Kommission verteidigt einmal mehr Berlin, obschon der Verdacht besteht, dass die Bundesregierung sich bei der – für den EUZusammenhalt so wesentlichen – gemeinsamen Beschaffung von Impfstoff nicht an Abmachungen hielt: Durch explizit untersagte Nebenverhandlungen sicherte sie sich womöglich 30 Millionen zusätzliche Dosen des BiontechImpfstoffs. Dabei hatten alle EUStaaten sich darauf verständigt, Nebenverhandlungen zu vermeiden. Anstatt zu schweigen, muss die Kommission diesen Fall nun aufklären.
Ansonsten drohen gleich mehrere Gefahren: Erstens ist der einzig klare Erfolg der EU während der Pandemie – nämlich die gemeinsame Beschaffung von Impfstoff – dadurch gefährdet. Verheerender ist aber eine andere Konsequenz: Die EU wird von vielen Kritikern ohnehin als deutsches Projekt beschrieben. Und von der Leyen gibt diesen Kritikern derzeit leider Recht, was dem EU-Einigungswerk langfristig schadet.