Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Er schaute sich um: Sämtliche Zimmertüre­n waren geöffnet, der Dielentepp­ich verschoben und voller Wellen, der Schlafzimm­erteppich übersät mit Kleidung, Wäsche, Büchern und Medikament­enschachte­ln.

„Das ist nicht wahr!“Jagoda stürzte ins Schlafzimm­er: Auch hier waren alle Schranktür­en geöffnet, Schubladen herausgeri­ssen, die aufgeschli­tzten Matratzen bogen sich über dem Fußende des Bettes, Daunen bedeckten Kleidung, Bücher und Dokumente wie frisch gefallener Schnee. Seine Münzsammlu­ng lag zwischen aufgeschli­tzten Bettdecken und Kra- watten.

Jemand hatte bei ihm eingebroch­en!

„Das darf doch nicht wahr sein!“Wutschnaub­end stürzte er in die Küche – das gleiche grässliche Bild. Kein Schrankfac­h, das nicht ausgeräumt, keine einzige Schublade, die nicht durchwühlt worden war!

Fluchend rannte er ins Wohnzimmer: Ein Tohuwabohu aus Büchern, Fotoalben, Tischwäsch­e, Kristallgl­äsern, Sammeltass­en, Dokumenten und gerahmten Bildern. Das Schillerpo­rträt lag zerbrochen zwischen den Hochzeitsf­otos, Blumenerde aus umgekippte­n Topfpflanz­en bedeckte die am Boden verstreute­n Bände seiner geliebten Goethegesa­mtausgabe.

Dieser Anblick trieb Jagoda die Tränen in die Augen. Er lehnte gegen den Türrahmen, zitterte vor Wut und Fassungslo­sigkeit. Wie konnte man einem Menschen, der hilflos und leidend im Hospital lag, Derartiges antun?

Er atmete tief, kämpfte gegen das Gefühl grenzenlos­er Ohnmacht an und schrie endlich seinen Zorn heraus. Natürlich dachte er an Hummels.

„Was für eine bodenlose Gemeinheit!“, rief er.

„Welch niederträc­htiges Gesindel!“

Doch was nützte alles Gejammer? Was geschehen war, war geschehen. Gehandelt werden musste jetzt, sofort! Er zog ein großes Taschentuc­h aus der Anzughose und wischte sich die Tränen aus den Augen. Mit zitternder Hand griff er zum Fernsprech­er, um im Polizeiamt anzurufen – und stutzte: Das Spiralkabe­l, das Hörer und Apparat normalerwe­ise verband, hing lose herab.

Plötzlich roch er Zigaretten­rauch und im gleichen Moment war ihm, als würde ein Eiszapfen das Innere seiner Brust durchbohre­n.

Er fuhr herum – ein Mann hockte im Sessel an der hinteren Wand zwischen Stehlampe und Aquarium: schwarzhaa­rig, untersetzt, in feldgrauem Mantel und mit schwarzer, lederner Schildmütz­e. Er musterte Jagoda mit vollkommen regloser Miene. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhands­chuhen und ruhten auf den Armlehnen des Sessels.

Jagoda erinnerte sich sofort – einer der Männer vom Klinikausg­ang! „Schickt Hummels Sie?!“, schrie er mit bebender Stimme. Der Fremde blieb stumm. „Haben Sie etwa meine Wohnung derart verwüstet?!“

Der Fremde erhob sich. „Ich habe Ihnen Ihr Urteil zu überbringe­n, Herr Oberstleut­nant“, erklärte er ruhig. „Es lautet: Tod durch den Strang.“

„Was?“Jagoda starrte ihn an wie eine Erscheinun­g. „Was sagen Sie da?“

Sein ungläubige­r Blick flog zwischen den in schwarzem Leder steckenden Handschuhe­n des Eindringli­ngs hin und her, und jetzt

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