Mammut-Prozess gegen die 'Ndrangheta
Vor Gericht stehen nicht nur Hunderte Mafiosi, sondern auch Politiker, Unternehmer, Justizangestellte und Polizisten
Es wird ein Prozess der Superlative: Vor dem Richter in der kalabresischen Kleinstadt Lamezia Terme werden heute über 350 Beschuldigte Platz nehmen; für rund 90 weitere Angeklagte, die sich für ein Schnellverfahren mit einem Geständnis entschieden hatten, beginnt im Februar außerdem ein Parallelprozess. Vorgeladen sind insgesamt über 900 Zeugen. In der 13 500 Seiten langen Anklageschrift sind 400 Straftatbestände aufgelistet – das halbe Strafgesetzbuch.
Die Anklage reicht von Mord, Erpressung und Raub über Drogenhandel, illegalen Waffen- und Sprengstoffbesitz bis hin zur Geldwäsche und anderen Wirtschaftsdelikten. Und natürlich wird praktisch allen Beschuldigten Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung vorgeworfen. Aus Sicherheitsgründen wird der Prozess in einem eigens aus dem Boden gestampften bunkerähnlichen Gerichtssaal stattfinden.
Ermöglicht wurde das Verfahren durch die Hartnäckigkeit des Oberstaatsanwalts von Catanzaro, Nicola Gratteri. Vier Jahre lang hatte der unerschrockene MafiaJäger mutmaßliche Mitglieder der 'Ndrangheta überwacht und abgehört, Zeugen und Mafia-Aussteiger befragt und dubiose Geldströme nachverfolgt. Dann schlugen 2 500 Mann der Carabinieri-Spezialeinheiten ROS – darunter auch Fallschirmjäger – bei einer Großrazzia mit dem Decknamen „Rinascita-Scott“in mehreren italienischen Regionen zu: Im Dezember 2019 wurden 334 Mitglieder und Unterstützer der 'NdranghetaClans aus der Provinz Vibo Valentia festgenommen.
Jedes Jahr werden Hunderte Verdächtige verhaftet
In den folgenden Monaten wanderten im Rahmen von „RinascitaScott“Dutzende weitere mutmaßliche Mafiosi hinter Gitter oder in Hausarrest. „Wir haben die Führungsspitze der 'Ndrangheta von Vibo Valentia eliminiert“, erklärte Gratteri nach der Razzia. Er ist der derzeit prominenteste Anti-MafiaStaatsanwalt Italiens und bringt jedes Jahr Hunderte von Verdächtigen hinter Gitter, allein im Jahr 2018 über 900.
Gratteri war vor einigen Jahren auch bei der Enttarnung und Zerschlagung der 'Ndrangheta-Zellen im Schweizer Kanton Thurgau und in verschiedenen deutschen Bundesländern beteiligt gewesen. Auch im Rahmen von „RinascitaScott“hatte Gratteri in der Schweiz, in Deutschland und in Bulgarien ermittelt. Der prominente Mafia-Jäger, der auch schon zahlreiche Bücher über die 'Ndrangheta veröffentlicht hat und seit Jahren vor den Ablegern der Organisation im Ausland warnt, lebt gefährlich: Er steht seit Jahren zuoberst auf der Todesliste der Mafia und muss rund um die Uhr von einem Dutzend Personenschützer bewacht werden.
Schon vor dem Beginn des Prozesses heute werden in Italien Vergleiche zum sogenannten „MaxiProzess“
gegen die sizilianische Cosa Nostra gezogen: Bei diesem von den beiden berühmten MafiaJägern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino durchgeführten Verfahren waren im Jahr 1987 mehrere hundert Mafiosi in Palermo zu insgesamt 2 665 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der Superpate der Cosa Nostra, Toto Riina, übte danach Rache, indem er Falcone und Borsellino von seinen Killern mit ferngezündeten Bomben ermorden ließ.
Aber letztlich hat sich die sizilianische Mafia nie mehr von dem „Maxi-Prozess“erholt: Die kalabrische 'Ndrangheta, gegen die nun der neue Mammutprozess beginnt, hat die Cosa Nostra längst als mächtigste, brutalste und internationalste italienische Mafia-Organisation abgelöst. Unter den Angeklagten des neuen Prozesses befinden sich wie einst in Palermo nicht nur gewöhnliche Mafiosi, sondern auch zahlreiche Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Justizangestellte, Dorfpolizisten und sogar ein Carabinieri-General, die laut Gratteri mit den Clans gemeine Sache gemacht haben. „Was mich bei den Ermittlungen am meisten überrascht hatte, war die Leichtigkeit, mit welcher die 'Ndrangheta die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und damit den Staat als solchen unterwandern konnten“, betont Gratteri. Dank ihren Verbindungen und der Komplizenschaft von ungetreuen Beamten, korrupten Unternehmern und mafiösen Freimaurern sei es den Clans gelungen, sogar an die Datenbanken der staatlichen Sicherheitsorgane zu gelangen.
Die zwei Schlüsselfiguren des Verfahrens sind Luigi Mancuso und Giancarlo Pittelli. Mancuso ist der Boss des gleichnamigen Clans der Kleinstadt Limbadi. Er gilt als „Kokain-König“Kalabriens und verfügt laut den Ermittlern über beste Verbindungen zu den kolumbianischen Drogenkartellen, zu deren Todesschwadronen und auch zur Cosa Nostra, die bei der Verteilung der Drogen hilft. Der Rechtsanwalt Pittelli wiederum ist ehemaliger Abgeordneter und Senator
der Berlusconi-Partei Forza Italia und in Politik und Wirtschaft bestens vernetzt. Mancuso und Pittelli sind von verdeckten Ermittlern dabei gefilmt worden, wie sie in Rom in teuren Restaurants diniert hatten und dabei auch geschäftliche Dinge zu besprechen hatten. Laut der Anklage ging es vor allem um Geldwäsche.
Auch kalabresische Regionalpolitiker der Linken stehen vor Gericht. Die kriminelle Symbiose von Mafia, Politik, Wirtschaft und Freimaurerei sei möglich geworden, weil man die 'Ndrangheta lange unterschätzt habe, betont Gratteri: „Jahrzehntelang hielt sich das Narrativ, dass es sich bei der 'Ndrangheta um eine Mafia aus einfachen Bauern, Hirten und vielleicht noch Entführern und Drogenhändlern handle. Das war bequem für die Politiker: „Es wurde dabei unterschlagen, dass die 'Ndrangheta auch wählen geht und wählen lässt“, sagt der Staatsanwalt. In Kalabrien sind die Stimmen der Mafia bei Wahlen oft entscheidend – und von den dank ihrer Unterstützung gewählten Politikern verlangen die Clans anschließend Gegenleistungen. Diese bestehen in der Regel in der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen sowie in der Besetzung von Stellen der öffentlichen Verwaltung mit Clan-Mitgliedern. Nicht nur die Politik sei von der 'Ndrangheta untergraben, sondern auch die Wirtschaft, betont Oberstaatsanwalt Gratteri: Bars, Restaurants und Hotels würden in weiten Teilen Italiens für Geldwäsche genutzt.
Clanmitglied wegen Homosexualität ermordet
Breit gemacht hat sich die 'Ndrangheta aber auch im Gesundheitswesen und in der Baubranche. Die Konkurrenz wird eingeschüchtert und zur Zahlung von Schutzgeld gezwungen: Laut Schätzungen Gratteris entrichten allein in Kalabrien rund 40 000 Unternehmen den sogenannten „Pizzo“. Die Erpressung von Schutzgeld hätte die 'Ndrangheta aus wirtschaftlicher Sicht eigentlich gar nicht nötig: Allein mit dem Kokainhandel, bei dem sie weltweit die Nummer eins sind, verdienen die kalabrischen Clans jedes Jahr Dutzende von Milliarden Euro. „Es geht der 'Ndrangheta nicht nur um das Materielle, um das Geld, sondern vor allem auch um die Demonstration ihrer Macht, um die Kontrolle des Territoriums“, betont die Anthropologin und Anti-Mafia-Aktivistin Chiara Tommasello aus Reggio Calabria. Die 'Ndrangheta wolle sich an die Stelle des Staats setzen, den sie als ihren Feind betrachtet. Das Schutzgeld entspricht damit fast einer staatlichen Steuer, die der Bürger an den Anti-Staat Mafia abführen muss.
Stellt sich jemand den Clans entgegen, setzen diese ihre Forderungen noch immer mit Einschüchterung und Gewalt durch. Erst letzte Woche schockierte ein 'Ndrangheta-Aussteiger die italienische Öffentlichkeit mit der Aussage, wonach eine vor drei Jahren in der
Wir haben die Führungsspitze der 'Ndrangheta von Vibo Valentia eliminiert. Nicola Gratteri, Oberstaatsanwalt von Catanzaro
In Kalabrien sind die Stimmen der Mafia bei Wahlen oft entscheidend.
Provinz Vibo Valentia spurlos verschwundene Jung-Unternehmerin vom Mancuso-Clan umgebracht und ihr Leichnam danach hungrigen Schweinen verfüttert worden sei. Sie habe sterben müssen, weil sie dem lokalen Boss ein Stück Land nicht verkaufen wollte. Töten und dafür sorgen, dass der Leichnam nie wieder auftaucht: Das Vorgehen heißt im Mafia-Jargon „lupara bianca“. In dem Rekord-Prozess wird es gleich um vier solche Morde gehen. Einer der Ermordeten wurde offenbar von seinem eigenen Clan getötet – weil er homosexuell gewesen sein soll.
Die Anthropologin Chiara Tommasello sagt: „Es braucht einen grundlegenden kulturellen Wandel in Kalabrien.“Im Laufe der Jahrzehnte habe die Vermischung von Politik und Mafia in der Bevölkerung ein tief sitzendes Misstrauen in die staatlichen Institutionen bewirkt – das dazu geführt habe, dass viele Bürger inzwischen überzeugt sind, dass es nur einen Weg gebe, einigermaßen in Frieden zu leben: sich mit diesen Zuständen abzufinden. „Gleichzeitig haben die Unfähigkeit und die Bestechlichkeit der politischen Führung dazu geführt, dass Kalabrien zu einer der ärmsten und rückständigsten Regionen der EU geworden ist“, betont die 33-jährige Wissenschaftlerin. „Und genau diese Armut wiederum ermöglicht es der 'Ndrangheta, ihre Macht zu konsolidieren und sich als einzige Organisation zu präsentieren, die den vielen Arbeitslosen überhaupt noch einen Job verschaffen kann – und sei es in illegalen Tätigkeiten wie dem Drogenhandel oder der Schutzgelderpressung, oder legal und schlecht bezahlt in den von ihr kontrollierten Betrieben.“