Die peinlichen Verwandten
Der Sturm auf das US-Kapitol erinnert viele Spanier an den Aufstand der katalanischen Separatisten 2017 – eine Analyse
„Sie fühlen sich unbehaglich“, schreibt Alfons López Tena. „Sie erkennen sich auf den Fotos vom Kapitol wieder, und sie gefallen sich nicht.“Mit „sie“meint er die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter. Hinter dem Sturm aufs US-Parlament in Washington vergangene Woche und dem separatistischen Aufstand in Barcelona vor gut drei Jahren, schreibt er weiter, stecke „derselbe Mechanismus: Man beruft sich auf den Willen des Volkes, der über den Gesetzen steht“. Am Ende sei es jedoch ein „Verlierer-Mechanismus – er war es in Katalonien, und er ist es diese Woche in den USA gewesen“.
López Tena, der Autor dieser Twitter-Kurzanalyse, gehört selbst zu den Unabhängigkeitsbefürwortern; ein paar Jahre saß er für eine separatistische Splitterpartei im katalanischen Regionalparlament. Aber der ausgebildete Jurist in ihm gewann schließlich die Oberhand. Mit Gesetzesbruch sei nicht zum Ziel zu kommen, findet er, und ist deswegen ein scharfer Kritiker der dominierenden Strömungen im katalanischen Separatismus geworden.
Aufruf gegen „Repression“Deren berühmtester Vertreter, der abgesetzte und nach Waterloo in Belgien geflohene Ex-Regionalpräsident Carles Puigdemont, interpretiert die Vorgänge in Washington ganz anders als López Tena. Trump habe die Wahlergebnisse verachtet, schreibt Puigdemont auf Twitter. „Trump glaubt, dass die Leute nicht richtig gewählt haben.“Das dürfe man niemandem durchgehen lassen. „Verstanden?“
Der Sturm aufs Kapitol am 6. Januar belebt in Spanien alte Debatten und wirft ein neues Licht auf vergangene Ereignisse. Die heiß diskutierte Frage ist: Wie ähnlich sind sich Trump-Republikaner und katalanische Nationalisten? Sind Letztere so gefährlich wie Erstere? Denn darin sind sich (fast) alle einig, Separatisten wie Antiseparatisten: Trump hat Demokratie und Rechtsstaat in den USA in größte Bedrängnis gebracht. Aber: Tun Puigdemont und seine Anhänger dasselbe in Spanien?
Für Sympathisanten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ist das ein ganz abwegiger Gedanke. Leute wie Elfriede Jelinek, Dilma Rousseff oder Shirin Ebadi, die gerade einen neuen Aufruf gegen die „Repression“in Katalonien unterzeichnet haben, halten die Separatisten für die Opfer eines ungerechten Systems. Das ist die erste Ähnlichkeit mit Trump (der glaubt, ihm sei die Wahl gestohlen worden): Weil ihnen Grenzen gezeigt werden – nämlich die des Rechtsstaates –, fühlen sie sich unterdrückt.
Die zweite verblüffende Ähnlichkeit: Die einen wie die anderen nutzen ihre Machtposition in den Institutionen für den Kampf gegen die Institutionen. Ein klassischer Putsch – so wie ihn rechte Militärs und Polizisten am 23. Februar 1981 in Spanien versuchten – will ein bestehendes System gegen ein neues austauschen. Der „postmoderne Putsch“, wie ihn der katalanische Schriftsteller Javier Cercas nennt, nutzt die innerhalb des
Systems erreichte politische Machtstellung, um diese nach eigenem Gutdünken weiter auszubauen. Funktioniert hat es beide Male nicht: Trump wird in ein paar Tagen das Weiße Haus räumen (wenn dem Operettenputschversuch nicht noch ein ganz ernsthafter folgt); Puigdemont wurde abgesetzt und sein Nachfolger Quim Torra auch.
Die Trump-Republikaner und die katalanischen Separatisten, das ist die dritte, bedeutsame Ähnlichkeit, behaupten im Namen des Volkes zu sprechen, auch wenn sie kaum die Hälfte des Volkes hinter sich haben. Deswegen ist es Puigdemont in seinem Kommentar zur Trump-Wahl so wichtig, an die
Wahlergebnisse zu erinnern. Er glaubt, dass, wer die Wahl gewonnen habe, sich alles erlauben dürfe. Ohne Rücksicht auf die Rechtslage. Das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017 war ebenso illegal, wie es jeder andere Abspaltungsversuch gegen den Willen des Rests Spaniens wäre. Das ist keine spanische Spinnerei, sondern international akzeptierter Rechtsstandard.
Legitimes Ziel
Was zu den Unterschieden führt. Das Ziel, das die katalanischen Separatisten verfolgen, ist ein legitimes: die Abspaltung vom Rest Spaniens. Gefährlich ist die Strategie auf dem Weg dahin. Trump hat kein legitimes Ziel. Er behauptet es nur.
Der zweite Unterschied ist ein augenfälliger, aber möglicherweise weniger fundamentaler, als es auf den ersten Blick erscheint: Der Sturm aufs Kapitol hat Todesopfer gefordert, während der Aufstand in Katalonien vergleichsweise friedlich verlief. Aber nicht immer. Kurz nachdem Puigdemonts Nachfolger Torra seine Anhänger aufgefordert hatte: „Macht Druck, macht Druck“, versuchte eine Hundertschaft von ihnen am 1. Oktober 2018 das katalanische Parlament zu stürmen. Zum Glück erfolgund folgenlos.
Am 14. Februar werden die Katalanen, wenn es die Corona-Seuche nicht verhindern sollte, ein neues Parlament wählen. Die Separatisten können wieder mit absoluter Sitzmehrheit rechnen – während zugleich die Zustimmung zu einer möglichen Unabhängigkeit in Katalonien sinkt. Im besten Fall tragen die peinlichen Ereignisse der vergangenen Woche in Washington dazu bei, dass sich die neue Regionalregierung in Barcelona gemäßigter geben wird als ihre Vorgängerinnen.