Grüne Welle der Frauenrechte
Von der Liberalisierung der Abtreibung in Argentinien geht ein Zeichen für ganz Lateinamerika aus
Nelly Minyersky musste lange warten, bis sie Wirklichkeit werden sah, wofür sie sehr viele Jahre gekämpft hat. 91 Jahre ist die Juristin und frühere Professorin an der Universität von Buenos Aires alt – und einer ihrer politischen Lebensträume hat sich gerade erst Ende des vergangenen Jahres erfüllt. Der argentinische Senat stimmte mit satter Mehrheit von 38 zu 29 Stimmen für ein neues Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche erlaubt. Sie sind sogar gratis. Was so normal klingt oder zumindest so klingen sollte, ist für Argentinien ein großer Schritt und für Lateinamerika vielleicht sogar der Sprung in eine neue Wirklichkeit. Es ist eine Entscheidung, die viel über das südamerikanische Land erzählt, aber auch viel über die neu erstarkte Kraft der Frau in Lateinamerika.
Vor zwei Jahren hatten die argentinischen Senatoren ein entsprechendes Gesetz noch scheitern lassen, und die Justiz steckte viele Frauen wegen versuchter Schwangerschaftsabbrüche ins Gefängnis. Aber jetzt haben sich im Süden Südamerikas die politische Landschaft und die Mehrheiten verändert. Nun ist das drittgrößte Land Lateinamerikas plötzlich Vorreiter bei einem hochsensiblen Thema in Lateinamerika, der Macho-Region par excellence. Hier geben gewöhnlich die katholische Kirche und konservative Politiker noch immer die Leitlinien vor. Hier dominieren Gewalt gegen und Unterdrückung von Frauen. „Femizide“, Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, sind in Iberoamerika schmerzvoller Alltag.
Abtreibungen werden nicht mehr
mit Gefängnis bestraft
Die betagte Kämpferin Minyersky, die das grüne symbolische Tuch der Bewegung immer am Handgelenk, dem Hals oder in der Tasche trägt, schlägt den Bogen zu einer Generation von wesentlich jüngeren Vorkämpferinnen, die Argentinien zur Speerspitze des Kampfes für Frauenrechte zwischen Rio Grande und Feuerland gemacht haben. „Die Abtreibung ist endlich aus dem illegalen Schatten getreten, und nun zeigt sich die Realität, die Frauen in die Heimlichkeit treibt und bestraft,“betont Minyersky. Noch immer werden in Argentinien pro Jahr bis zu einer halben Million Abbrüche vorgenommen. Rechnet man das auf die ganze Region hoch, sind es viele Millionen klandestine Eingriffe, welche die Frauen nicht selten mit dem Leben oder mit Gefängnis bezahlen.
In ganz Lateinamerika ist daher eine neue feministische Bewegung entstanden, eine „marea verde“. Diese „grüne Welle“der Vernunft schickt sich jetzt an, das argentinische Vorbild auch in andere Staaten zu tragen. So etwa nach Mexiko, nach Kolumbien oder vor allem nach Zentralamerika, wo viele Länder, darunter das einstmals linke Nicaragua von Daniel Ortega, Frauen in keinem Fall den Abbruch gestatten – nicht einmal nach einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für
Für die Frauenrechtlerin Nelly Minyersky ist die Legalisierung der Abtreibung ein Erfolg, für den sie jahrzehntelang gekämpft hat. das Leben der Mutter. Es sind Bedingungen, die an vergangene Jahrhunderte erinnern.
Die feministische Bewegung Argentiniens ist eine der erfahrensten in Lateinamerika und hat im Kampf für Frauen- und Kinderrechte und bei der Gleichstellung viel erreicht. „Ni una menos“(„Nicht eine weniger“), eine Bewegung gegen die Femizide, ging von hier aus um den Kontinent und fand in den großen Kapitalen Lateinamerikas neue Bannerträgerinnen, aber auch Bannerträger. In den vergangenen Jahren wurde in Argentinien diskutiert, gestritten und darüber debattiert, wie man den Frauen eine bessere Position in der Gesellschaft
verschaffen kann. Der Feminismus wurde so eine relevante Stimme in der politischen Landschaft Argentiniens.
In der Folge gelang es der „Nationalen Kampagne für eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung“erstmals 2018, ein Gesetz ins Parlament einzubringen. Es kam durch das Abgeordnetenhaus, scheiterte aber im Senat.
Aber dieses Mal stand vor allem die Regierung hinter der Initiative. Der linksliberale Präsident Alberto Fernández legte das Gesetz dem Kongress im November höchstpersönlich vor. Dass sich Fernández selbst das grüne Tuch als Banner „umgebunden“hat, zeigt zum einen, wie stark die feministische Bewegung heute ist und auch, wie sehr die katholische Kirche und die evangelikalen Freikirchen zumindest beim Thema Abtreibung die Deutungshoheit verloren haben. Und das gerade im Heimatland von Papst Franziskus. „Wir sind heute ein besseres Land geworden“, sagte