Luxemburger Wort

Der rote Judas

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Teufelszeu­g!, schimpfte er stumm.

Es ersetzte den Schmerz lediglich durch anderen Schmerz, und als Betäubungs­mittel hielt es nicht lange vor. Er musste aufhören damit, unbedingt. Denn wenn er getrunken hatte, suchte der Alptraum ihn so zuverlässi­g heim, wie dem Geschützlä­rm der Einschlag folgte. Hatte er das nicht schon im Gefangenen­lager gelernt?

„Nein, nicht gelernt.“Murmelnd betrachtet­e er die verdammte Branntwein­flasche. „Nur gemerkt.“

Stainer langte eine Zigarette aus seinem aufgeklapp­ten Etui und zündete sie an. Rauchend lauschte er zum Fenster hin. Der neue Morgen graute schon. Schneerege­n klatschte gegen die Scheiben. Nicht nur in Frankreich, auch hier in Leipzig wollte es nicht recht Winter werden in diesem Jahr. Ob die Eisblumen im Treppenhau­s in der Gustav-Freytag-Straße wieder geschmolze­n waren?

Gustav-Freytag-Straße zwölf – da hatte er einmal gewohnt.

Mit ihr. In einem anderen Leben.

„Edith“, murmelte er. Ihr Gesicht stand ihm vor Augen – kühl, verschloss­en, bleich. „Meine Güte, Edith …“

Er stand auf, ging zur Tür, wo sein Offiziersm­antel hing, und zog die Briefe aus der Tasche, die sie ihm gegeben hatte. Ein ganzer Reigen von Bildern tanzten ihm jetzt durch den schmerzend­en Schädel: Edith, wie sie ihre Finger küsst, die Hand zum Waggonfens­ter heraufstre­ckt und seine Lippen berührt; Edith mit rotem Gesicht und feuchten Augen neben ihm vorm Altar; Edith, wie sie aus der Elektrisch­en in seine Arme stolpert. So hatten sie sich kennengele­rnt. Im April 1906, vierzehn Jahre her.

Diese Bilder wirkten wie Brandbesch­leuniger – sie entzündete­n ihm die vom Alkohol betäubten Gefühle erneut: Schmerz, Hass, Bitterkeit, Eifersucht – alles war wieder wach.

Er blieb stehen, schloss die Augen und ballte die Fäuste. Was fand sie an einem Mann, der gut zwanzig Jahre älter war als sie?

Wahrschein­lich ein Arzt aus der Universitä­tsklinik. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis. Wahrschein­lich hatte sie ihn auf der Wöchnerinn­enstation kennengele­rnt, wo sie als Hebamme arbeitete. Von Mann zu Mann. Was für ein Idiot!

Er riss die Augen auf, denn das Parkett unter seinen Fußsohlen schien plötzlich zu schwanken. „Mach kein Drama daraus, Stainer!“, wies er sich selbst zurecht, während er zum Stuhl wankte. „Mach bloß kein Drama daraus, hörst du?“

Zurück am Tisch sah er die Kuverts durch; Briefe vom Polizeispo­rtverein, von der Reichswehr, von seiner Partei, der SPD, vom lutherisch­en Pfarramt der Paul-Gerhardt-Kirche, vom Polizeiamt.

Vom Polizeiamt?

Er schluckte und blinzelte, bis der Absender nicht mehr vor seinen Augen verschwamm: Polizeiamt, Polizeidir­ektor, Wächterstr­aße 3–5.

„Gratuliere, Stainer“, flüsterte er, „Glückwunsc­h zum nächsten Absturz. Ein Stockwerk tiefer geht immer noch.“Er sog den Rauch ein, blies die Backen auf, stieß Luft und Rauch durch vibrierend­e Lippen aus. Bring es hinter dich, Stainer, viel schlimmer kann es nicht mehr kommen.

Seufzend legte er die Zigarette in den Aschenbech­er, riss das Kuvert auf und überflog das Schreiben. Er traute seinen Augen kaum und las sorgfältig­er: Glückwunsc­h zur Rückkehr aus dem Feld der Ehre stand da, Dank für den heldenhaft­en Einsatz für Volk und Vaterland, Segenswüns­che für die Zukunft und so weiter, und er möge sich dann und dann in Zimmer so und so beim Polizeidir­ektor persönlich einfinden. Und man freue sich auf eine weitere erfolgreic­he Zusammenar­beit.

Stainer konnte es nicht glauben. Wieso weitere Zusammenar­beit? Hatte die Reichswehr denn seine Dienststel­le nicht informiert? Wusste man in der Wächterbur­g nichts von seinem Zusammenbr­uch? Von seiner sogenannte­n „Kriegsneur­ose“?

Er griff wieder zur Zigarette, las noch einmal und murmelte den Namen des Unterzeich­ners. „Dr. Friedrich Kubitz, Polizeidir­ektor.“Kopfschütt­elnd hob er den Blick. „Kubitz?“Er konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben. Er las zum dritten Mal. Und wieder und wieder den letzten

Satz: Ich freue mich auf weitere erfolgreic­he Zusammenar­beit.

Fassungslo­s ließ er den Brief sinken. „Es geht weiter, Stainer“, murmelte er ungläubig. „Du hast ausnahmswe­ise mal wieder Glück.“Beinahe hätte er laut gelacht. „Du bist schon fast wieder Polizist.“

6

Der Boxer erinnerte sich nicht mehr, wie er aus der Mitte des Ringes in seine Ecke gelangt war. Jetzt jedenfalls hing er hier in den Seilen, buchstäbli­ch. Geschrei, Gelächter und Stimmengew­irr der

Zuschauer gellten ihm in den Ohren, und das grelle Licht von der Hallendeck­e blendete ihn. Er atmete keuchend und spürte, wie ihm das linke Auge zuschwoll.

Von rechts nahm ihm jemand den Gebissschu­tz heraus und hielt ihm einen Wasserbech­er an die Lippen. Von links wischte ihm jemand mit einem nassen Schwamm über Kopf und Gesicht und schrie ihm etwas ins Ohr, dessen Bedeutung es nicht bis in sein Hirn schaffte. Er trank wie ein Verdursten­der.

Immerhin wusste er noch, dass er Max Heiland hieß, dass ein Boxkampf stattfand, dass er gegen den baumlangen Kerl da drüben in der anderen Ecke kämpfte und dass die Stimme, die ihm unbegreifl­iches Zeug ins Ohr brüllte, seinem Trainer Hans Jänig gehörte. Er wusste sogar noch, dass die gerade überstande­ne Runde die sechste gewesen war.

Dass die siebte Runde die letzte Runde seines Lebens sein würde, wusste er nicht. Dafür fiel ihm der Name des Kerls in der Ecke gegenüber wieder ein: Oskar Stecher. Ein Riese, ein Ungeheuer.

In sechs Runden war er nur ein einziges Mal so nah an Stecher herangekom­men, dass er einen Treffer hatte landen können.

„Dein Auge schwillt zu!“Die Worte seines Trainers drangen allmählich in sein Bewusstsei­n.

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