Das schwarze Loch Vergangenheit
Guy Stern ist Hildesheimer Jude, US-amerikanischer Patriot und einer der letzten „Ritchie Boys“
Eines Tages während seines ersten High-School-Jahres in St. Louis, 1937 oder 1938, nahm ihn sein Politiklehrer beiseite und redete ihm freundlich ins Gewissen: „Ich freue mich, wenn du über meine Scherzversuche lächelst“, sagte der Lehrer, den alle „Doc Bender“nannten. „Aber nimm dir ruhig die Freiheit, laut herauszulachen wie alle anderen in der Klasse.“
Guy Stern war 15, vielleicht 16 Jahre alt und hatte das Lachen verlernt. Ein paar Jahre zuvor, noch in Hildesheim, hatte sein Vater ihm und seinem jüngeren Bruder ernst in die Augen geschaut und gesagt: „Ihr müsst wie unsichtbare Tinte sein. Ihr werdet, wenn die Tinte in besseren Zeiten wieder sichtbar wird, Spuren eurer Existenz hinterlassen, aber bis dahin …“
Soweit es möglich war, habe ich böswillige oder einfältige Menschen vermieden und habe mich an die gehalten, die guten Willens sind. Guy Stern
Die Warnung des Vaters hatte sich dem Jungen tief ins Wesen eingeschrieben. Nicht auffallen. Nicht laut lachen. Jetzt war er in den USA, er war in Sicherheit, er war in Freiheit, aber so schnell wollte sein Schutzpanzer nicht von ihm abspringen. „Doc Bender“war einer von denen, die ihm halfen, sich dem Leben zu öffnen. „Ich weiß nicht, wie ich so viel guten Willen verdient habe“, sagt Stern, „aber er ist immer wieder zu mir gekommen.“
Guy Stern, geboren vor 99 Jahren, am 14. Januar 1922, als Günther Stern in Hildesheim, ist ein wunderbarer Mann, der gerne lacht und die Gabe besitzt, sich an der Güte seiner Mitmenschen zu erwärmen. „Soweit es möglich war, habe ich böswillige oder einfältige Menschen vermieden“, sagt er, „und habe mich an die gehalten, die guten Willens sind.“Er hätte auch ein anderer werden können. Er hätte Grund, die Deutschen zu hassen, die ihn als Jungen ins Exil zwangen und seine Familie ermordeten. Aber er hasst die Deutschen nicht. „Ich hasse die Deutschen, ist eine unmögliche Einstellung“, sagt er. Unmöglich für ihn.
Wechselvolle Lebensgeschichte
Stern hat gerade seine Autobiografie veröffentlicht – „früher bin ich nicht dazu gekommen“– und hat sie „Invisible Ink“– „Unsichtbare Tinte“– betitelt. Sie erzählt von einem heldenhaften Leben. Stern hat sich dieses Leben nicht ausgesucht. Er kam als Jude in Deutschland zur Welt und entging dem Holocaust. Also nahm er sich vor,
„mein Leben so zu gestalten, dass ich … vielleicht ist das zu viel gesagt … dass ich’s verdient habe, davonzukommen“.
Mit 15 Jahren war er als einziger aus seiner Familie den Nazis entkommen. Mit 20 Jahren war Stern bereit zu kämpfen. „Ich wollte mein Land, mit dem mich immer noch eine Art Zugehörigkeitsgefühl verband, von einer Bande befreien“, sagt er. Von der Hitler-Bande. Nachdem ihn die Armee zum Kriegsdienst eingezogen und zum „fast tauglichen Soldaten“gemacht hatte, wurde er im Mai 1943 ins Camp Ritchie geschickt, dem Military Intelligence Training Center in Maryland. Hier war er am richtigen Ort.
„Wir waren mit Haut und Haaren dabei“, sagt er über sich und die anderen „Ritchie Boys“, wie sie sich selber nannten. „Wir haben nächtelang durchgearbeitet, aus eigenem Antrieb. Dazu hätte uns kein Vorgesetzter zwingen können. Wir hatten eine Einstellung wie Missionare.“Die Mühe war es wert. Stern verließ das Camp als ausgebildeter Kriegsgefangenenbefrager.
Er wartete darauf, an die Front geschickt zu werden.
Am 9. Juni 1944, drei Tage nach dem D-Day, landete er in der Normandie. Am Strand lagen die Leichen toter Kameraden und toter Deutscher, und Stern, dem im friedlichen Leben schon schlecht wird, wenn er jemanden sieht, der sich in den Finger geschnitten hat, blieb kühl.
Er hatte eine Aufgabe. Ein Ritchie-Boy-Kollege, Kurt Jasen, rief ihm von irgendwoher zu: „Get the hell over here, Stern! We’ve got too many fucking prisoners.” Und Stern kam rüber und machte sich an die Arbeit: Er verhörte deutsche Kriegsgefangene, um von ihnen so viel wie
Guy Sterns Eltern, sein Bruder und seine Schwester 1938 in Hildesheim.
möglich über den Zustand und die Pläne der feindlichen Armee herauszufinden. Er hatte nun diejenigen in der Hand, vor denen er sieben Jahre zuvor geflohen war.
Nachdem der Krieg gewonnen war, kehrte Stern als Soldat in USUniform und mit neuem Vornamen nach Hildesheim zurück, in seine Heimatstadt, aus der er acht Jahre zuvor vertrieben worden war. Hier erhielt er Gewissheit, dass man seine Eltern und seine beiden jüngeren Geschwister ermordet hatte. Hier traf er auf einer Party eine Bekannte, deren Bruder ihn und seinen jüngeren Bruder Werner im Schwimmbad schikaniert hatte. Er verließ die Party und er verließ Hildesheim, „entschlossen, dass dies mein letzter Besuch in Hildesheim gewesen sein sollte“, erzählt er. 15 Jahre später kehrte er zurück, und dann noch einmal, und wieder und wieder.
Doch es blieb ein schwarzes Loch im Universum des Guy Stern: der Mord an seinen geliebten Eltern und den jüngeren Geschwistern. Er habe nie einen Psychologen oder
Psychiater gebraucht, sagt Stern, aber einer – ein Kollege an der Universität von Cincinnati – habe ihm doch einmal gesagt: Er erkenne bei ihm einen typischen Verdrängungsmechanismus. Stern hörte sich das an und sagte zu sich selbst: „Wenn dir das hilft, wenn du so deinen Weg gehen kannst, indem du nicht allzu oft darauf eingehst …“So hat er mit seiner Geschichte leben können.
Seine größte Heldentat
Wahrscheinlich ist das Sterns größte Heldentat, jenseits seiner Ritchie-Boy-Abenteuer: dass er seinen Frieden mit Deutschland geschlossen hat. Er machte in den USA Karriere als Professor für deutsche Literatur. Heute lebt er in Detroit, wo er seit 1978 an der Wayne State University lehrt. Den Kontakt nach Deutschland hat er nicht abreißen lassen. Er ging als Gastprofessor nach Freiburg, München, Frankfurt am Main, Leipzig und Potsdam. Exilliteratur und Gotthold Ephraim Lessing sind seine Forschungsschwerpunkte.
„Meine Frau nennt mich ein Arbeitstier, und sie meint das nicht lobend“, sagt er. Endlich drängten ihn Freunde und Kollegen, seine Lebenserinnerungen, für die er niemals Zeit fand, aufzuschreiben, „und das war mir schließlich Ansporn, die Sache nicht bis zu meinem Tod aufzuschieben“: die Geschichte von Guy Stern, der wieder lachen lernte.
Guy Stern: Invisible Ink.
238 Seiten, 45 Abbildungen. Wayne State University Press, Detroit 2020. ISBN-13: 9780814347591
Preis: 24,99 €
Meine Frau nennt mich ein Arbeitstier, und sie meint das nicht lobend. Guy Stern