„Es soll kein Tabu sein“
Gilles Baum über den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen und dem Thema Suizid
Heute Nachmittag debattieren die Abgeordneten in der Chamber auf Anfrage von DP-Fraktionschef Gilles Baum über das Thema Suizid. Auf den Tag genau vor einem Jahr schockierte die Nachricht vom Tod seines Amtsvorgängers Eugène Berger nicht nur das Parlament. Im „Wort“-Interview spricht Baum über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die mentale Gesundheit, sowie bestehenden Nachholbedarf im luxemburgischen Gesundheitssystem.
Gilles Baum, Sie haben die Debatte über das Thema Suizid in der Chamber angefragt, was waren Ihre Beweggründe?
Wir merken, dass die Pandemie, in der wir uns befinden, nicht spurlos an den Menschen vorbeigeht. Vor allem in der ersten Welle waren die Freiheiten der Menschen stark eingeschränkt, doch auch über Weihnachten hatten wir strikte Maßnahmen. Es hat aber nicht jeder ein großes Haus mit einem großen Garten, wo die Kinder spielen können, manche Leute leben mit zwei Kindern in einer kleinen Wohnung. Diese ständige Nähe hat einen Einfluss auf das Gemüt. Weil sich die wirtschaftliche Lage nicht so erholt hat wie erhofft, haben zudem viele Menschen Existenzängste. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie suchen mehr Bürger psychiatrische Hilfe und im Herbst hat das Jugendparlament eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wird, dass die mentale Gesundheit mehr thematisiert werden soll. Wenn schon die Jungen das fordern, sollte uns das hellhörig werden lassen.
Im Lockdown hatten viele Menschen mit Vereinsamung zu kämpfen. Wie hat sich Corona auf die Suizidstatistik ausgewirkt?
Bis jetzt wurde nicht festgestellt, dass es im Jahr 2020 signifikant mehr Selbstmorde als in den Vorjahren gegeben hat. Statistisch gesehen liegen wir im europäischen Vergleich gut. Auf 100 000 Einwohner gibt es 8,7 Suizide, das entspricht zwischen 70 und 80 Fällen im Jahr. Der EU-Durchschnitt liegt bei zwölf Suiziden pro 100 000 Einwohnern. Hinzu kommt eine gewisse Dunkelziffer, denn wenn jemand mit seinem Wagen absichtlich einen Unfall provoziert, wird er nicht in der Suizidstatistik geführt. Die Zahl der Selbstmordversuche ist zehn bis 20 Mal höher, es versuchen also bis zu 1 500 Personen im Jahr sich das Leben zu nehmen. Mit Blick auf die Depressionen liegt der Wert wesentlich höher. Bei den Frauen sind es 11,7 und bei den Männern 8,2 Prozent, der EUDurchschnitt liegt bei 7,9 respektive 5,2 Prozent. Ein Auslöser dürfte sein, dass die Menschen zunehmend Probleme haben alles unter einen Hut zu bekommen.
Gilles Baum (48) befand sich selber noch nie an dem Punkt, an dem er darüber nachdachte, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Meine vier Kinder sind meine große Inspiration und mein Ausgleich.“
Es ist enorm wichtig zuzuhören und dort zu helfen, wo es geht. Finanzielle Probleme kann man beispielsweise in der Familie auffangen. Mit Blick auf die gesamte Gesellschaft müssen wir flächendeckend Kurse in Erster Hilfe für mentale Gesundheit anbieten. Das wird jetzt schon in den Schulen gemacht, zahlreiche Lehrer wurden bereits darin ausgebildet Anzeichen dafür zu erkennen, dass es einem Schüler psychisch schlecht geht.
Verlieren wir in unserer schnelllebigen Zeit zunehmend den Blick für unsere Mitmenschen und ihre Probleme?
Ja, wir leben in einer Zeit, in der sich furchtbar viel furchtbar schnell verändert. Ich merke vor allem im Vereinsleben, dass nur wenige Menschen zwischen 30 und 50 Jahren bereit sind sich zu engagieren, weil sie in ihrem Alltag mit Arbeit und Kindern enorm gefordert sind. Die Zeit, die ihnen neben der Arbeit bleibt, nutzen sie für die Familie, aber andere
Mitmenschen und soziale Kontakte bleiben auf der Strecke.
Wird genug über das Thema Suizid gesprochen und informiert?
Der Suizid ist wie Depressionen, Ängste und Psychosen ein Tabuthema. Es ist eine Belastung für die Familien und viele können nur schwer damit umgehen. Es ist wichtig, dass wir in dieser Zeit darüber reden, es soll kein Tabu sein. Eine depressive Person hat sich das nicht ausgesucht, das ist eine Krankheit. Ich glaube, dass sich noch viele Menschen schämen, aber es muss sich niemand für eine Depression, Psychose oder dafür, dass sich eine Person aus dem persönlichen Umfeld das Leben genommen hat, schämen.
Viele Menschen haben Existenzängste.
Wir müssen flächendeckend Kurse in Erster Hilfe für mentale Gesundheit anbieten.
Vor allem in den Krankenhäusern fehlt es an Psychologen. Was kann man kurz- bis mittelfristig dagegen tun?
Kurzfristig nichts, außer Personal aus dem Ausland zu rekrutieren, dabei droht die Situation dramatisch zu werden. In den kommenden 15 Jahren werden wir 80 Prozent des aktuellen Personals verlieren. Derzeit haben wir in den Krankenhäusern 25 Psychiater und sieben Kinderpsychologen. Mittelfristig sollte man an der Universität Luxemburg einen Studiengang für Psychiatrie einrichten. Heute können Medizinstudenten nach ihrer sechsjährigen Grundausbildung hierzulande bereits eine dreijährige Fachausbildung zum Generalisten, Neurologen oder Onkologen machen.
Ein gutes Angebot bei der Ausbildung könnte auch Studenten aus den Nachbarländern anziehen.
Ist die aktuelle Situation nicht auch das Resultat von Versäumnissen bei der Ausbildung und einer Sparpolitik im Gesundheitsbereich?
Nein. Was die Ausbildung betrifft, so haben wir ungefähr 1 000 Medizinstudenten auf ausländischen Universitäten, von denen 35 Prozent nicht nach Luxemburg zurückkommen, weil sie, meist aus privaten Gründen, dort hängen bleiben und dann hier fehlen. Eine Sparpolitik im Gesundheitssektor kann ich nicht feststellen.