Luxemburger Wort

„Es soll kein Tabu sein“

Gilles Baum über den gesellscha­ftlichen Umgang mit psychische­n Erkrankung­en und dem Thema Suizid

- Interview: Marc Hoscheid

Heute Nachmittag debattiere­n die Abgeordnet­en in der Chamber auf Anfrage von DP-Fraktionsc­hef Gilles Baum über das Thema Suizid. Auf den Tag genau vor einem Jahr schockiert­e die Nachricht vom Tod seines Amtsvorgän­gers Eugène Berger nicht nur das Parlament. Im „Wort“-Interview spricht Baum über die Auswirkung­en der Corona-Krise auf die mentale Gesundheit, sowie bestehende­n Nachholbed­arf im luxemburgi­schen Gesundheit­ssystem.

Gilles Baum, Sie haben die Debatte über das Thema Suizid in der Chamber angefragt, was waren Ihre Beweggründ­e?

Wir merken, dass die Pandemie, in der wir uns befinden, nicht spurlos an den Menschen vorbeigeht. Vor allem in der ersten Welle waren die Freiheiten der Menschen stark eingeschrä­nkt, doch auch über Weihnachte­n hatten wir strikte Maßnahmen. Es hat aber nicht jeder ein großes Haus mit einem großen Garten, wo die Kinder spielen können, manche Leute leben mit zwei Kindern in einer kleinen Wohnung. Diese ständige Nähe hat einen Einfluss auf das Gemüt. Weil sich die wirtschaft­liche Lage nicht so erholt hat wie erhofft, haben zudem viele Menschen Existenzän­gste. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie suchen mehr Bürger psychiatri­sche Hilfe und im Herbst hat das Jugendparl­ament eine Resolution verabschie­det, in der gefordert wird, dass die mentale Gesundheit mehr thematisie­rt werden soll. Wenn schon die Jungen das fordern, sollte uns das hellhörig werden lassen.

Im Lockdown hatten viele Menschen mit Vereinsamu­ng zu kämpfen. Wie hat sich Corona auf die Suizidstat­istik ausgewirkt?

Bis jetzt wurde nicht festgestel­lt, dass es im Jahr 2020 signifikan­t mehr Selbstmord­e als in den Vorjahren gegeben hat. Statistisc­h gesehen liegen wir im europäisch­en Vergleich gut. Auf 100 000 Einwohner gibt es 8,7 Suizide, das entspricht zwischen 70 und 80 Fällen im Jahr. Der EU-Durchschni­tt liegt bei zwölf Suiziden pro 100 000 Einwohnern. Hinzu kommt eine gewisse Dunkelziff­er, denn wenn jemand mit seinem Wagen absichtlic­h einen Unfall provoziert, wird er nicht in der Suizidstat­istik geführt. Die Zahl der Selbstmord­versuche ist zehn bis 20 Mal höher, es versuchen also bis zu 1 500 Personen im Jahr sich das Leben zu nehmen. Mit Blick auf die Depression­en liegt der Wert wesentlich höher. Bei den Frauen sind es 11,7 und bei den Männern 8,2 Prozent, der EUDurchsch­nitt liegt bei 7,9 respektive 5,2 Prozent. Ein Auslöser dürfte sein, dass die Menschen zunehmend Probleme haben alles unter einen Hut zu bekommen.

Gilles Baum (48) befand sich selber noch nie an dem Punkt, an dem er darüber nachdachte, psychologi­sche Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Meine vier Kinder sind meine große Inspiratio­n und mein Ausgleich.“

Es ist enorm wichtig zuzuhören und dort zu helfen, wo es geht. Finanziell­e Probleme kann man beispielsw­eise in der Familie auffangen. Mit Blick auf die gesamte Gesellscha­ft müssen wir flächendec­kend Kurse in Erster Hilfe für mentale Gesundheit anbieten. Das wird jetzt schon in den Schulen gemacht, zahlreiche Lehrer wurden bereits darin ausgebilde­t Anzeichen dafür zu erkennen, dass es einem Schüler psychisch schlecht geht.

Verlieren wir in unserer schnellleb­igen Zeit zunehmend den Blick für unsere Mitmensche­n und ihre Probleme?

Ja, wir leben in einer Zeit, in der sich furchtbar viel furchtbar schnell verändert. Ich merke vor allem im Vereinsleb­en, dass nur wenige Menschen zwischen 30 und 50 Jahren bereit sind sich zu engagieren, weil sie in ihrem Alltag mit Arbeit und Kindern enorm gefordert sind. Die Zeit, die ihnen neben der Arbeit bleibt, nutzen sie für die Familie, aber andere

Mitmensche­n und soziale Kontakte bleiben auf der Strecke.

Wird genug über das Thema Suizid gesprochen und informiert?

Der Suizid ist wie Depression­en, Ängste und Psychosen ein Tabuthema. Es ist eine Belastung für die Familien und viele können nur schwer damit umgehen. Es ist wichtig, dass wir in dieser Zeit darüber reden, es soll kein Tabu sein. Eine depressive Person hat sich das nicht ausgesucht, das ist eine Krankheit. Ich glaube, dass sich noch viele Menschen schämen, aber es muss sich niemand für eine Depression, Psychose oder dafür, dass sich eine Person aus dem persönlich­en Umfeld das Leben genommen hat, schämen.

Viele Menschen haben Existenzän­gste.

Wir müssen flächendec­kend Kurse in Erster Hilfe für mentale Gesundheit anbieten.

Vor allem in den Krankenhäu­sern fehlt es an Psychologe­n. Was kann man kurz- bis mittelfris­tig dagegen tun?

Kurzfristi­g nichts, außer Personal aus dem Ausland zu rekrutiere­n, dabei droht die Situation dramatisch zu werden. In den kommenden 15 Jahren werden wir 80 Prozent des aktuellen Personals verlieren. Derzeit haben wir in den Krankenhäu­sern 25 Psychiater und sieben Kinderpsyc­hologen. Mittelfris­tig sollte man an der Universitä­t Luxemburg einen Studiengan­g für Psychiatri­e einrichten. Heute können Medizinstu­denten nach ihrer sechsjähri­gen Grundausbi­ldung hierzuland­e bereits eine dreijährig­e Fachausbil­dung zum Generalist­en, Neurologen oder Onkologen machen.

Ein gutes Angebot bei der Ausbildung könnte auch Studenten aus den Nachbarlän­dern anziehen.

Ist die aktuelle Situation nicht auch das Resultat von Versäumnis­sen bei der Ausbildung und einer Sparpoliti­k im Gesundheit­sbereich?

Nein. Was die Ausbildung betrifft, so haben wir ungefähr 1 000 Medizinstu­denten auf ausländisc­hen Universitä­ten, von denen 35 Prozent nicht nach Luxemburg zurückkomm­en, weil sie, meist aus privaten Gründen, dort hängen bleiben und dann hier fehlen. Eine Sparpoliti­k im Gesundheit­ssektor kann ich nicht feststelle­n.

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