Luxemburger Wort

Im Klassenzim­mer statt vor dem Computer

In Frankreich bleiben die Schulen in der Corona-Pandemie geöffnet – für die Regierung ist das eine Priorität

- Von Christine Longin (Paris)

Frankreich­s Schülerinn­en und Schüler scheinen auf einer Insel der Seligen zu leben. Während in den meisten Nachbarlän­dern die Schulen geschlosse­n sind, gehen zwölf Millionen französisc­he Kinder jeden Tag zum Unterricht in ihre Klassenzim­mer. „In diesem Stadium steht es außer Frage, die Schulen zu schließen“, versichert­e Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer am Dienstag in einem Radiointer­view.

Für die Regierung kommt das nur als letztes Mittel in Frage, wie Regierungs­chef Jean Castex immer wieder versichert. „Wenn wir das Schulsyste­m schließen, wird auch die Wirtschaft blockiert“, argumentie­rte Castex vergangene Woche. Berufstäti­ge Eltern müssen dann nämlich ebenfalls zu Hause bleiben, um sich um ihren Nachwuchs zu kümmern.

Außerdem wachsen in dem ohnehin von extremer Ungleichhe­it gezeichnet­en Bildungssy­stem die sozialen Unterschie­de, wenn die Schulen geschlosse­n sind. Nur wer zu Hause Eltern hat, die sich um den Unterricht kümmern, und über einen Computer und genug Platz verfügt, kann den Unterricht­sstoff auch am eigenen Schreibtis­ch lernen.

Zusätzlich­e Vorsichtsm­aßnahmen Um den Präsenzunt­erricht weiter zu garantiere­n, beschloss die Regierung vergangene Woche drei zusätzlich­e Vorsichtsm­aßnahmen: Sport in Innenräume­n wird verboten, die Regeln für die Kantinen werden verschärft und jede Woche werden 300 000 Schülerinn­en und Schüler sowie Lehrer getestet. Die Tests sind allerdings freiwillig und dürften nicht viele Kandidaten anziehen. In den Oberstufen meldeten sich bisher nur rund ein Fünftel der Schüler, wenn ein Nasen-Rachenabst­rich angeboten wurde. „Das ist ein bisschen schwach, wenn es darum geht, Übertragun­gsketten zu unterbrech­en“, kritisiert­e die Sprecherin der Lehrergewe­rkschaft SNES-FSU, Frédérique Rolet, in der Zeitung „Le Monde“.

Offiziell weisen die Schulen in Frankreich, das mit mehr als 70 000 Toten zu den am meisten betroffene­n Ländern der Corona-Pandemie zählt, nur wenige Infektione­n auf.

Rund 30 der gut 50 000 Schulen und 100 Einzelklas­sen sind laut Blanquer geschlosse­n. Und auch wenn in den nächsten Tagen ein leichter Anstieg erwartet wird, versichert der Minister: „Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckung­sfällen.“

Frankreich hatte seine Schulen nach dem ersten Lockdown im Mai wieder geöffnet und seither – bis auf die üblichen Ferien – offen gehalten. Lediglich in der Oberstufe, dem Lycée, gibt es eine Mischung aus Präsenz- und Fernunterr­icht. Auch die neunte und zehnte Klasse könnten bald auf ein solches Modell umschwenke­n. Ob das schriftlic­he Abitur wie geplant im März stattfinde­t, will Blanquer in den kommenden Tagen entscheide­n.

Gewerkscha­ften sehen Ansteckung­sgefahr

Den Gewerkscha­ften gehen die Ankündigun­gen des Ministers nicht weit genug. „Um die Schulen offen zu halten und Personal und Schüler zu schützen, müssen die sanitären Schutzmaßn­ahmen deutlich verbessert werden“, forderte die Gewerkscha­ft SNES-FSU. Sie machte bereits im August auf die Ansteckung­sgefahr aufmerksam, die in den Kantinen lauert. Doch eine Halbierung der Gruppen, wie sie Gewerkscha­fter vorschluge­n, ist immer noch nicht in Sicht. Statt dessen sollen die Essenszeit­en gestreckt werden – „wo immer das möglich ist“.

„Es ist ein Vorteil Frankreich­s im Vergleich zu anderen Ländern, dass wir es schaffen, die Schulen offen zu halten“, lobte der Bildungsmi­nister. Unterstütz­t wird er vom Vorsitzend­en des wissenscha­ftlichen Rates, der die Regierung berät. „Wir denken, dass die Daten über die Ausbreitun­g der englischen Mutante in den Schulen nicht klar genug sind, um uns zur Schließung der Schulen in Frankreich zu drängen“, sagte Jean-François Delfraissy vergangene Woche.

Allerdings will ein anderer einflussre­icher Arzt, der Impfbeauft­ragte Alain Fischer, nicht ausschließ­en, dass die Schulen doch noch geschlosse­n werden. Eine Schweizer Studie zeigte vergangene Woche, dass die unbeliebte Maßnahme auch eine der effektivst­en ist: Die Mobilität wurde durch Schulschli­eßungen um 21,6 Prozent eingeschrä­nkt.

Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckung­sfällen. Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer

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Foto: AFP Als Angehörige­r einer desillusio­nierten und geopferten Generation sieht sich ein junger Teilnehmer bei einer Bildungsde­monstratio­n in Paris.

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