Im Klassenzimmer statt vor dem Computer
In Frankreich bleiben die Schulen in der Corona-Pandemie geöffnet – für die Regierung ist das eine Priorität
Frankreichs Schülerinnen und Schüler scheinen auf einer Insel der Seligen zu leben. Während in den meisten Nachbarländern die Schulen geschlossen sind, gehen zwölf Millionen französische Kinder jeden Tag zum Unterricht in ihre Klassenzimmer. „In diesem Stadium steht es außer Frage, die Schulen zu schließen“, versicherte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer am Dienstag in einem Radiointerview.
Für die Regierung kommt das nur als letztes Mittel in Frage, wie Regierungschef Jean Castex immer wieder versichert. „Wenn wir das Schulsystem schließen, wird auch die Wirtschaft blockiert“, argumentierte Castex vergangene Woche. Berufstätige Eltern müssen dann nämlich ebenfalls zu Hause bleiben, um sich um ihren Nachwuchs zu kümmern.
Außerdem wachsen in dem ohnehin von extremer Ungleichheit gezeichneten Bildungssystem die sozialen Unterschiede, wenn die Schulen geschlossen sind. Nur wer zu Hause Eltern hat, die sich um den Unterricht kümmern, und über einen Computer und genug Platz verfügt, kann den Unterrichtsstoff auch am eigenen Schreibtisch lernen.
Zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen Um den Präsenzunterricht weiter zu garantieren, beschloss die Regierung vergangene Woche drei zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen: Sport in Innenräumen wird verboten, die Regeln für die Kantinen werden verschärft und jede Woche werden 300 000 Schülerinnen und Schüler sowie Lehrer getestet. Die Tests sind allerdings freiwillig und dürften nicht viele Kandidaten anziehen. In den Oberstufen meldeten sich bisher nur rund ein Fünftel der Schüler, wenn ein Nasen-Rachenabstrich angeboten wurde. „Das ist ein bisschen schwach, wenn es darum geht, Übertragungsketten zu unterbrechen“, kritisierte die Sprecherin der Lehrergewerkschaft SNES-FSU, Frédérique Rolet, in der Zeitung „Le Monde“.
Offiziell weisen die Schulen in Frankreich, das mit mehr als 70 000 Toten zu den am meisten betroffenen Ländern der Corona-Pandemie zählt, nur wenige Infektionen auf.
Rund 30 der gut 50 000 Schulen und 100 Einzelklassen sind laut Blanquer geschlossen. Und auch wenn in den nächsten Tagen ein leichter Anstieg erwartet wird, versichert der Minister: „Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckungsfällen.“
Frankreich hatte seine Schulen nach dem ersten Lockdown im Mai wieder geöffnet und seither – bis auf die üblichen Ferien – offen gehalten. Lediglich in der Oberstufe, dem Lycée, gibt es eine Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht. Auch die neunte und zehnte Klasse könnten bald auf ein solches Modell umschwenken. Ob das schriftliche Abitur wie geplant im März stattfindet, will Blanquer in den kommenden Tagen entscheiden.
Gewerkschaften sehen Ansteckungsgefahr
Den Gewerkschaften gehen die Ankündigungen des Ministers nicht weit genug. „Um die Schulen offen zu halten und Personal und Schüler zu schützen, müssen die sanitären Schutzmaßnahmen deutlich verbessert werden“, forderte die Gewerkschaft SNES-FSU. Sie machte bereits im August auf die Ansteckungsgefahr aufmerksam, die in den Kantinen lauert. Doch eine Halbierung der Gruppen, wie sie Gewerkschafter vorschlugen, ist immer noch nicht in Sicht. Statt dessen sollen die Essenszeiten gestreckt werden – „wo immer das möglich ist“.
„Es ist ein Vorteil Frankreichs im Vergleich zu anderen Ländern, dass wir es schaffen, die Schulen offen zu halten“, lobte der Bildungsminister. Unterstützt wird er vom Vorsitzenden des wissenschaftlichen Rates, der die Regierung berät. „Wir denken, dass die Daten über die Ausbreitung der englischen Mutante in den Schulen nicht klar genug sind, um uns zur Schließung der Schulen in Frankreich zu drängen“, sagte Jean-François Delfraissy vergangene Woche.
Allerdings will ein anderer einflussreicher Arzt, der Impfbeauftragte Alain Fischer, nicht ausschließen, dass die Schulen doch noch geschlossen werden. Eine Schweizer Studie zeigte vergangene Woche, dass die unbeliebte Maßnahme auch eine der effektivsten ist: Die Mobilität wurde durch Schulschließungen um 21,6 Prozent eingeschränkt.
Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckungsfällen. Bildungsminister Jean-Michel Blanquer