Auf wackeligen Füßen
Nach der knapp gewonnenen Vertrauensabstimmung im Senat ist Italiens Regierung noch schwächer als zuvor
Ganz zum Schluss der Debatte hat der Senat noch eine Weltpremiere erlebt: den parlamentarischen Videobeweis. Nachdem Senatspräsidentin Maria Elisabetta Alberti Casellati die Vertrauensabstimmung am späten Dienstagabend bereits für beendet erklärt hatte, protestierten zwei Senatoren, die bereits unterwegs zum Mikrofon gewesen sein wollten, um ihre Stimme abzugeben. Casellati ließ in der Folge die Videoaufnahmen überprüfen – und siehe da: Die beiden Senatoren – ein von der FünfSterne-Bewegung ausgeschlossener Impf- und Maskengegner sowie ein später Nachfolger der Craxi-Sozialisten – hatten die Wahrheit gesagt. Es waren zwei Stimmen mehr für Giuseppe Conte.
Regieren wird komplizierter
Das Resultat der Vertrauensabstimmung lautete schließlich 156 zu 140 Stimmen zugunsten von Giuseppe Conte. Nach dem Austritt der Kleinpartei Italia Viva von Ex-Premier Renzi aus seiner Koalition sind dem Regierungschef am Dienstag eine Handvoll Überläufer aus anderen Parteien zur Seite gesprungen, darunter eine langjährige enge Vertraute von ExPremier Silvio Berlusconi, die im Zusammenhang mit den Sexskandalen des Cavaliere vor Gericht stand. Außerdem stimmten drei auf Lebenszeit ernannte Senatoren für die Regierung.
Mit den 156 Stimmen erreichte die Regierung freilich lediglich eine einfache, nicht aber die absolute Mehrheit. Bei 315 gewählten Mitgliedern plus den sechs auf Lebenszeit ernannten Senatoren läge diese bei 161 Stimmen. Die einfache Mehrheit sichert Conte und seiner Regierung zwar das politische Überleben, aber das Regieren
ist sehr viel komplizierter geworden. In den meisten Kommissionen des Senats befindet sich die Regierung nun in der Minderheit, insbesondere in der wichtigen Finanzkommission, die praktisch jede neue Regierungsvorlage bewerten muss. Die Opposition kann die Geschäfte nun blockieren und fast nach Belieben Bedingungen stellen.
Die Regierung Conte ist nicht die erste, die sich in dieser ungemütlichen Situation befindet – aber kaum eine vor ihr sah sich mit so gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Unter Experten bestehen große Zweifel, ob Conte mit seiner neuen, politisch noch heterogener gewordenen Koalition die Stärke und die Handlungsfähigkeit besitzt, um zum Beispiel einen
Plan zur Verwendung der 209 Milliarden Euro aus dem EU-Recovery-Fund zu erarbeiten, in welchem auch die von Brüssel erwarteten einschneidenden Reformen der öffentlichen Verwaltung und der Justiz enthalten sind. Conte hat es vor dem Koalitionsbruch Renzis nicht geschafft – warum sollte es ihm jetzt mit einer numerisch und politisch schwächeren Koalition gelingen?
Auch der Regierungschef ist sich des Problems bewusst. Conte ist jedoch zuversichtlich, dass er seine Wackel-Koalition in den kommenden Wochen noch mit weiteren Neuzugängen wird verstärken können. Im Visier für weitere Rekrutierungen hat er die 18 Senatorinnen und Senatoren von Renzis Italia Viva, die mit dem Koalitionsbruch ihres Chefs im Innersten nicht einverstanden sind. Hoffnungen setzt der Premier außerdem in einige Christdemokraten, die aus der Opposition ins Regierungslager wechseln könnten. Die neuen Verbündeten könnten eine neue, christlich-soziale und europafreundliche Fraktion bilden, die zugleich zur Wiege einer neuen Mittepartei werden könnte, die Conte offenbar zu gründen gedenkt.
Es könnte aber auch das Gegenteil passieren, denn auch die gegnerische Seite hat mit Abwerbeversuchen im Regierungslager begonnen. Die Lega von Oppositionsführer Matteo Salvini hat ihre Fühler in Richtung der größten Regierungspartei, der Fünf-Sterne-Protestbewegung, ausgestreckt, nicht ohne Aussicht auf Erfolg: Unter den Fünf-Sterne-Leuten gibt es nach wie vor etliche Parlamentarier, die der alten, im August 2019 geplatzten Regierungskoalition mit dem Europafeind Salvini nachtrauern – und die sich mit jedem neuen Europafreund, der nun der Regierung Conte beitritt, unbehaglicher fühlen.
Die politische Krise in Rom scheint deshalb nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Dass Conte am Dienstagabend nicht gestürzt ist, hat er vor allem der Angst vor Neuwahlen zu verdanken: Wegen der seit den letzten Parlamentswahlen 2018 stark reduzierten Sitzzahl im Abgeordnetenhaus und im Senat ist die Gefahr für die derzeitigen „Onorevoli“und „Senatori“, ihren einträglichen Sitz zu verlieren, so groß wie noch nie.
Im Juli wird diese politische Lebensversicherung von Conte auslaufen: Anfang 2022 läuft die siebenjährige Amtszeit von Staatspräsident Sergio Mattarella aus, und in den letzten sechs Monaten vor seinem Abschied darf das Staatsoberhaupt laut Verfassung das Parlament nicht mehr auflösen. Conte könnte also gestürzt werden, ohne dass seine Gegner um ihren Sitz fürchten müssten.
Conte ist zuversichtlich, dass er seine Wackel-Koalition in den kommenden Wochen noch mit weiteren Neuzugängen wird verstärken können.