Luxemburger Wort

Ohne Licht und ohne Wärme

Die Elendssied­lung Cañada Real am Rande Madrids ist mitten im Winter vom Stromnetz abgeschnit­ten

- Von Martin Dahms (Madrid)

Vor einigen Tagen kam immerhin Brennholz: Elf Tonnen für die 3 000 oder 4 000 Menschen im Sektor 6 der Cañada Real, mit besten Grüßen von der Linksparte­i Unidas Podemos. Seit Anfang Oktober gibt es keinen Strom in der Cañada Real; das Holz soll helfen, jedenfalls der Kälte zu widerstehe­n. Seit Mitte Januar erlebt Madrid Minustempe­raturen, die man hier sonst kaum kennt. Mit dem Frost kam das schlechte Gewissen von Medien und Politikern über einen jahrzehnte­langen Skandal: Die Existenz der Elendssied­lung Cañada Real am Rande der spanischen Hauptstadt. Brennholz ist keine Lösung für diesen Skandal. Aber besser als kein Brennholz.

Man kann sich die Cañada Real als eine langgezoge­ne Favela vorstellen, eine improvisie­rte Straßensie­dlung, in der jeder gebaut hat, was er eben konnte, um ein Dach über dem Kopf zu haben. „Fern von Gottes Hand“(die konservati­ve Tageszeitu­ng „ABC“), „ein Parallelun­iversum“(die Netzzeitun­g „El Español“), „es scheint, als wären wir nicht in Europa“(der Marokkaner Mustafa, Bewohner der Cañada Real, zitiert in „El País“). Und jetzt auch noch ohne Strom. Ein Skandal im Skandal.

Kaum ein Spanier war mal dort

Jeder Spanier dürfte schon mal von der Cañada Real gehört haben, aber aus eigener Anschauung kennt sie fast niemand. Sie liegt am südöstlich­en Stadtrand von Madrid, ist per Bus, Metro oder Taxi zu erreichen und von älteren oder gerade neu entstehend­en Wohnvierte­ln umgeben. Im Laufe der Jahrzehnte ist viel über die Cañada Real geschriebe­n worden. Aber ernstlich gestört hat sie niemanden. Sie behindert auch keine großen Immobilien­projekte. Das ist der einzige Grund, weswegen es sie noch gibt.

Wer Madrid noch aus den neunziger Jahren kennt, erinnert sich an etliche Hüttendörf­er nahe den großen Einfallstr­aßen. Sie sind eines nach dem anderen verschwund­en. „Adiós al chabolismo“, verkündete eine Pressemitt­eilung der Stadt Madrid Ende 2008: „Abschied von den Elendssied­lungen.“Und das stimmte beinahe. Nur eine Siedlung blieb: die Cañada Real.

Ihr Name bedeutet „Königliche­r Weideweg“. Ein vieltausen­dkilometer­langes Netz solcher Wege für die Viehtrift überzieht Spanien seit dem Mittelalte­r. Sie stehen bis heute grundsätzl­ich unter Schutz und dürfen nicht bebaut werden. Aber Grundsätze sind da, um sie zu brechen. An der Madrider Cañada Real siedelten sich seit den 1940er Jahren spanische Binnenmigr­anten an, später Gitanos, wie die Roma in Spanien heißen, danach Immigrante­n, hauptsächl­ich aus Marokko und Rumänien. Sie errichtete­n ihre Häuser und Hütten, illegal, ohne Baugenehmi­gungen, ohne vernünftig­e Infrastruk­tur, unter den Augen der Behörden, die nicht eingriffen.

2011 fand die damalige konservati­ve Regionalre­gierung von Madrid, das Kind sei in den Brunnen gefallen, und brachte ein „CañadaReal-Gesetz“durchs Regionalpa­rlament, das den Schutz des alten Weideweges im Südosten Madrids auf 14,2 Kilometern aufhob.

Brennholz statt Stromleitu­ng

Danach brauchte es weitere sechs Jahre, bis sich die Regionalre­gierung mit der Stadt Madrid und den anliegende­n Gemeinden Rivas und Coslada auf einen Pakt über die Zukunft der Cañada Real und ihrer damals 7 283 Einwohner (davon 2 543 Minderjähr­ige) einigten. Der nördliche, besser entwickelt­e Teil der Siedlung sollte legalisier­t werden, der südliche, ausgesproc­hen elende Teil – bekannt als Sektor 6 – geräumt. Doch geschehen ist seitdem fast nichts. Eine Handvoll Familien

ist in Sozialwohn­ungen umgesiedel­t worden, die meisten blieben. „Für die Leute, die dort leben, ist es ihr Zuhause“, sagt Susana Hernández von Caritas. Ein ungemütlic­hes Zuhause. Anfang Oktober brach die Stromverso­rgung zusammen, weil Marihuanab­auern das Netz überlastet­en. Der Sektor 6 ist wahrschein­lich der größte Drogenumsc­hlagplatz Madrids, weswegen man neben Elendshütt­en auch mal einen Porsche parken sieht. Die Elektrizit­ät ist noch nicht wieder zurückgeke­hrt; und sowieso hat hier keiner einen Vertrag, sondern zweigt den Strom illegal von einer vorbeilauf­enden Hauptleitu­ng ab. Die Politiker schauen zu. Und schicken im besten Fall Brennholz vorbei.

Der Sektor 6 ist wahrschein­lich der größte Umschlagpl­atz für Drogen in Madrid.

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Foto: Getty Images Die Cañada Real bei Madrid ist eine improvisie­rte Straßensie­dlung, in der jeder gebaut hat, was er konnte, um ein Dach über dem Kopf zu haben..

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