Auf der Flucht vor Erdogan
Die „Säuberungen“in der Türkei gehen weiter
Sie wähnten sich auf dem Weg in die Freiheit. Von einem abgelegenen Strand bei Marmaris an der türkischen Ägäisküste wollte die Gruppe von 13 Frauen und Männern am vergangenen Sonntag in einem Schlauchboot zu einer der griechischen Inseln übersetzen. Doch der Versuch scheiterte. Sie wurden von einer Streife der türkischen Küstenwache entdeckt und festgenommen. Zu der Gruppe gehörten Soldaten, Lehrer und Krankenschwestern, die wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung ihre Arbeit verloren hatten.
Die türkische Regierung macht den Prediger Fethullah Gülen, der seit 1999 im Exil in den USA lebt, für den Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Seine Bewegung wird in der Türkei unter dem Namen „Fetö“als Terrororganisation eingestuft. Die Abkürzung steht für „Fethullah-Terrororganisation“. Gülen und seine Anhänger bestreiten jede Beteiligung an dem Putschversuch von 2016.
Zerstörte Existenzen
Viereinhalb Jahre später gehen die „Säuberungen“, mit denen Erdogan gegen mutmaßliche Anhänger seines Erzfeindes Gülen vorgeht, unvermindert weiter. Am Dienstag erließ die Staatsanwaltschaft im westtürkischen Izmir Haftbefehle gegen 238 aktive und frühere Angehörige der Streitkräfte. Ihnen werden Verbindungen zu „Fetö“vorgeworfen. Bei Razzien in 60 türkischen Provinzen und im türkisch kontrollierten Nordzypern wurden bisher 203 der Gesuchten verhaftet, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu gestern. Ihnen drohen langjährige Gefängnisstrafen. Erst am Montag hatte ein Gericht 17 mutmaßliche
Gülen-Anhänger zu Haftstrafen zwischen sieben und 25 Jahren verurteilt. Laut dem türkischen Innenministerium wurden seit dem Putschversuch 292 000 Verdächtige festgenommen und 125 000 Staatsbedienstete entlassen, darunter 15 000 Armeeangehörige und 31 000 Polizisten. 30 000 Menschen sitzen wegen Gülen-Verbindungen in Haft.
Und es wären noch viel mehr, gelänge Menschen, denen in der Türkei die Verhaftung droht, nicht immer wieder die Flucht ins benachbarte Griechenland. Vor zehn Tagen flohen fünf Männer, eine Frau und zwei Kinder mit einer Segeljacht aus der Türkei nach Sitia auf Kreta. Sie gaben sich als verfolgte Gülen-Anhänger zu erkennen und beantragten politisches Asyl – acht von fast 20 000 türkischen Staatsbürgern, die seit 2016 Zuflucht in Griechenland suchten. Etwa 9 000 von ihnen stellten Asylanträge. Viele von ihnen tauchen aber unter, bevor die Verfahren überhaupt in Gang kommen. Seit Mitte 2016 haben die griechischen Behörden etwa 2 000 Türken Asyl gewährt.
Dass nicht alle der Schutzsuchenden Asyl beantragen und die meisten, die einen Antrag stellen, ihn nicht weiterverfolgen, hat vor allem einen Grund: Sie fühlen sich in Griechenland nicht sicher und versuchen deshalb, so schnell wie möglich in ein anderes EU-Land weiterzureisen. „Erdogans Arm ist lang“, sagt der 42-jährige Mehmet, der 2019 mit seiner Frau und drei kleinen Kindern in einer dramatischen Flucht über den Grenzfluss Evros nach Griechenland kam. Mehrfach hat der türkische Geheimdienst MIT in den vergangenen Jahren Flüchtige im Ausland aufgespürt und in die Türkei entführt. Mehmet hat deshalb die Asylanträge nicht weiterverfolgt und lebt heute in einem westeuropäischen Land.